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Der Schweizversteher

Der Schweizversteher

Titel: Der Schweizversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diccon Bewes
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Mikrofon
unter die Nase gehalten wird, eine Praxis, die die BBC schon vor zwanzig Jahren abgeschafft hat. Jedes Mal, wenn wieder eine prägnante
Antwort des Interviewten zu hören ist, erscheint der Untertitel erneut, um uns
daran zu erinnern, wen wir vor uns haben. Und zwar nicht deshalb, weil das
Gedächtnis der Eidgenossen löchrig ist wie Schweizer Käse, sondern weil sich
ein Zuschauer gerade erst zugeschaltet haben könnte und wissen möchte, wer da
spricht. Jedenfalls wirken die Nachrichten lebendiger, wenn alle paar Sekunden
Untertitel ein- und ausgeblendet werden.
    Aber zurück zu meinen rechtsextremen Möbelhändlern im
Nahen Osten. Die Buchstaben stehen in Wirklichkeit für Internationales Komitee
vom Roten Kreuz, alias IKRK . Das ist der offizielle
Name der Organisation, und auf ihrer Website bezeichnet sie sich auch fast
ausschließlich so, sogar auf der englischen, wo sie zu ICRC mutiert. Allerdings sind diese vier Buchstaben in den britischen Nachrichten
völlig unbekannt, wo man das zwanglose Red Cross bevorzugt, nicht zuletzt weil man es besser mit ernster Miene aussprechen kann
als icy arsey , was ein Engländer allzu leicht als
»eisiger Hintern« missverstehen könnte.
    Da das IKRK schweizerischen Ursprungs ist, gibt es natürlich eine logische Erklärung für
den umständlichen Namen. Jedes Land hat seine eigene nationale Rotkreuz- (oder
Rothalbmond-)Gesellschaft; deshalb steht auf diesen riesigen
Lebensmittelhilfesäcken immer »Gift of the American Red Cross« –ich dachte
immer, dass die Amerikaner einfach wieder mal angeben wollen. Die Aufsicht über
die vielen Gesellschaften führt das IKRK , ein
Komitee mit 18
Mitgliedern, die Konsensentscheidungen treffen. Das ist durch und durch
schweizerisch, und auch die Mitglieder sind allesamt Eidgenossen. Damit ist die
Neutralität des Komitees garantiert, die durch Mitglieder aus anderen Ländern
beeinträchtigt werden könnte. Wie würde zum Beispiel ein russisches Mitglied
auf Hilferufe aus Tschetschenien reagieren oder ein sudanesisches auf solche
aus Darfur? Hier vorurteilsfrei zu bleiben wäre schwierig, und das IKRK würde so unparteiisch entscheiden wie
Eiskunstlaufrichter oder die Jury beim Eurovision Song Contest. Dieses Komitee
einfach als Red Cross zu bezeichnen, wie wir faulen Engländer es tun, ist also
technisch nicht korrekt. Schweizer hingegen sind überaus akkurat, immerhin
machen sie die besten Uhren der Welt.
    Also nennen wir wie echte Schweizer das Museum bei
seinem vollen Namen – das Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondmuseum –, um
es dann nach englischer Manier wieder auf etwas Aussprechbares
zurückzuschrauben. Es gehört zu den besseren Museen der Schweiz, denn es
informiert, ohne zu bevormunden, und gibt Denkanstöße, während es zugleich die
Folgen der Unmenschlichkeit erforscht. Vor allem aber ist es bewegend. Man
bräuchte schon ein Herz aus Stein, um beim Anblick der sieben Millionen
Karteikarten ungerührt zu bleiben, die sich zu einer Gesamthöhe von über 400
Metern auftürmen: Denn jede Karte steht für einen Kriegsgefangenen des Ersten
Weltkriegs. Einfühlsame Menschen wie ich fragen sich, was aus jedem einzelnen
dieser Männer geworden ist oder aus den 45 Millionen
Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs (deren Karteikarten dankenswerterweise
nicht ausgestellt sind; das wäre doch zu viel).
    Das fesselndste Ausstellungsstück ist das vielleicht
unscheinbarste, nämlich der Inhalt eines schlichten Kartons: 1 Liter
Pflanzenöl, 3
Kilogramm Langkornreis, 3
Kilogramm Nudeln, 100
Gramm Hefe, 1
Kilogramm weißer Zucker, 500
Gramm Salz, 8
Kilogramm Mehl und 2
Kilogramm getrocknete weiße Bohnen oder 5 Dosen Hühnchenfleisch zu
je 425
Gramm. Das klingt wie die Zutatenliste zu einem wenig schmackhaften Rezept,
aber es ist der Inhalt eines typischen Rotkreuz-Lebensmittelpakets, mit dem ein
Erwachsener einen Monat auskommt. Auch die Bestandteile des Hygienepakets sind
aufschlussreich: 3
Kilogramm Waschpulver, 4
Rollen Toilettenpapier, 200
Gramm Seife, 75
Milliliter Zahnpasta, 250
Milliliter Shampoo, ebenfalls für einen Erwachsenen für einen Monat
zusammengestellt. Der Inhalt beider Kartons macht in der Vitrine nicht viel
her, aber er hat unzähligen Menschen das Leben gerettet. So oft habe ich im
Fernsehen beobachtet, wie sie in Katastrophengebieten und Flüchtlingslagern in
aller Welt

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