Der Schweizversteher
verabredet, was ich als
half
seven
verstand und deshalb eine Stunde zu spät auftauchte. Das
nächste Mal stellte ich den Zeitpunkt auf Deutsch und auf Englisch klar, weil
meine Kenntnis deutscher Zahlen offenbar noch nicht übers Kindergartenniveau
hinausreichte, und mir passierte dasselbe erneut. Einmal eine Stunde zu spät
kommen ist Pech; es zweimal zu schaffen sieht nach Gedankenlosigkeit aus, hätte
Lady Bracknell gesagt, wenn sie Schweizerin gewesen wäre. Die Schuld liegt bei
den unterschiedlichen Zeitbezeichnungen. Ich hatte halb sieben
fälschlicherweise als
half
seven
übersetzt und geglaubt, es bedeute wie im Englischen 7.30 Uhr.
Bin ich doof! Halb sieben ist in Wirklichkeit
half six
. Liegt doch auf der Hand, oder? Ãbersetze die Zahl, zieh eins ab und addiere ein
Halbes dazu.
Das Problem ist, dass
half seven
im Englischen
eine Abkürzung für
half-past
seven
ist, während im Deutschen halb sieben nur die Hälfte auf
dem Weg zur sieben bedeutet, also 6.30 Uhr. Eine ganze Stunde
früher. Und selbst wenn man es in der Schweiz mit anderen Englischsprachigen zu
tun hat, die hier schon länger leben, ist nicht auszuschlieÃen, dass sie
half seven
als
Ãbersetzung des schweizerischen halb sieben deuten. Meine Lösung? Sagen Sie
einfach
six thirty
,
oder, besser noch, verabreden Sie sich nur zur vollen Stunde. Sieben Uhr ist
für jeden glasklar â oder doch nicht? Viele Schweizer halten sich sogar
umgangssprachlich an die 24-Stunden-Uhr
â das muss mit dem ständigen Lesen von Fahrplänen zusammenhängen. Daher habe
ich mir angewöhnt, 19.00
Uhr zu sagen, um jedes Risiko auszuschlieÃen, dass jemand zwölf Stunden zu früh
kommt. Das klingt in englischen Ohren ziemlich militärisch â oder vielleicht
einfach nur typisch schweizerisch.
â
Krieg und Frieden
Ãber die Koexistenz von Neutralität und Militarismus
Jedes Jahr geben die Schweizer bei einer landesweiten
Umfrage Auskunft über die drei Dinge, die sie mit ihrem Land verbinden. Und
jedes Jahr rückt Volkes Stimme zwei Themen ganz nach oben: Frieden und
Sicherheit sowie Neutralität. Im Denken der Schweizer ist beides eng
miteinander verknüpft; sie schätzen ihr Land als Oase der Sicherheit in einer
unruhigen Welt, aber diesen Status zu erhalten ist nur dank ihrer Neutralität
möglich. Das sind die beiden Reifen des Schweizer Fahrrads; mit einem Platten
fährt der ganze Drahtesel nicht mehr.
Der dritte Faktor wechselt bei der Umfrage nahezu
jedes Jahr: Demokratie, Ordnung, Freiheit und Natur, all diese Schlagworte sind
schon in der Liste aufgetaucht.
Nichts kommt aber auch nur entfernt an die Neutralität
heran, die als fundamentaler Bestandteil der Schweizer Identität gilt, und zwar
sowohl daheim wie im Ausland. Sie ist quasi die heiligste Kuh in einem Land der
Milchwirtschaft. Das hängt teilweise mit den strengen Regeln zusammen, die die
Eidgenossen ihrer Neutralität auferlegen, aber auch mit ihrer dauerhaften
Bindung an eine Organisation, das Rote Kreuz. Es mag nominell unabhängig sein,
aber für viele ist das Rote Kreuz ebenso eine Schweizer Schöpfung wie das rote
Taschenmesser und Käse mit Löchern. Dass es überhaupt existiert, ist einem Mann
zu verdanken, der es verdienen würde, als berühmtester Schweizer aller Zeiten
verehrt zu werden, aber die wenigsten haben überhaupt je von ihm gehört. Dabei
ist er der Mann, der der Welt ein Gewissen gab. Und der Schweiz eine Rolle auf
der Weltbühne.
Schwer vorstellbar, in welcher Welt wir leben würden,
wenn Henri Dunant nie geboren worden wäre: kein Rotes Kreuz, somit keine
humanitäre Hilfe; keine Genfer Konvention, also keine Regeln der Kriegsführung;
kein YMCA und folglich keine Village People. Ohne
ihn könnte die Welt tatsächlich so trostlos aussehen.
Doch wie verhält es sich mit seinem Beitrag zur
Entstehung der modernen Schweiz? Wenn Dunant und damit das Rote Kreuz nie
existiert hätten, was für ein Land wäre die Schweiz heute? Oder, fast genauso
wichtig, wie anders würde sie wahrgenommen werden?
Zeit, mehr über diese durch und durch schweizerische
internationale Institution herauszufinden â und auch über ihren Gründer. Zeit
für einen Besuch in der internationalsten Stadt der Schweiz: in Genf.
Ein Weltdorf
So klein es ist, Genf verkörpert den hochgeschätzten
Internationalismus und die in Ehren gehaltene
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