Der Schwimmer: Roman (German Edition)
ein paar Dörfer weiter hinter einem Postschalter Adressen in ein Heft zu schreiben und Briefe zu wiegen, die verschickt wurden an Orte, von denen wir nie gehört hatten, kam Ági zu uns unters Dach und erzählte Geschichten, für die Isti oder ich den ersten Satz vorgeben durften. Istis Geschichten fingen an mit Meine Mutter hatte einen Hut oder Meine Mutter konnte Kuchen backen oder Meine Mutter wollte einmal singen, während meine Geschichten begannen mit Wenn der Vogel fliegt oder Wenn der Frühling kommt oder Majestät hat sich angekündigt. Immer hatten Ágis Erzählungen ein gutes Ende, und ich begann mich darauf zu verlassen, daß es das geben konnte: eine Erzählung mit einem guten Ende.
Oft steckte Ági Isti eine Forintmünze zu, von der wir uns unten am See ein Eis kauften, oder ein Stück Schokolade, das wir sofort verschlangen. Wenn es geregnet hatte und Isti mit schmutzigen Füßen durch das Haus lief, kehrte Ági den getrockneten Dreck zusammen, bevor mein Vater ihn sehen konnte, und sonntags, wenn andere zur Kirche mußten, ließ sie uns schlafen, bis es Mittag war. Aber wenn Zoltán uns fragte: Glaubt ihr, daß ich so rauchen kann, daß mir der Rauch aus den Ohren kommt, glaubt ihr das?, und Isti den Kopf schüttelte und davonlief, schrie Ági ihm hinterher, warum glaubst du ihm nicht, was fällt dir ein? Wenn Ági mehr als zwei Gläser Schnaps getrunken hatte, änderte sich ihre Stimme, und sie fragte mich, sie hat euch verlassen, ja? Den Hof, die Jauchegrube, den Gottesdienst, ja? Und ihr wundert euch? Ági fragte, ohne eine Antwort haben zu wollen, und sie fragte in einem Ton, den ich nicht vergaß, weil er alles einfärbte, was Ági tat oder sagte.
In diesem Sommer fing Isti an, Dinge zu hören, die keinen Laut von sich gaben. Er sagte, er höre den Himmel, ganz gleich, wie nah oder weit, ob bewölkt oder wolkenlos, er höre die Trauben, die roten besser als die grünen, und er höre den Staub, der über den Boden weht, wenn sich eine Tür öffne, diese dicken weißen Flocken, die höre er. Er höre das Blut in Zoltáns Adern, obwohl es nur langsam fließe, und ja, es fließe sehr langsam, hin und wieder bleibe es einen Augenblick lang sogar stehen, das der anderen fließe schneller, viel schneller, besonders mein Blut, meines fließe am schnellsten. Die Federn im Kissen höre er, wenn sie nachts unter seinem Kopf flüsterten, sagte Isti, aber was sie flüsterten, wollte er mir nicht verraten. Wenn es unter dem Dach heiß wurde, fragte er: Hörst du, wie das Holz stöhnt?, und ich antwortete: Ja, ich höre es. Als Ági Virágs Haar schnitt, ging Isti aus dem Haus, weil er das Haar hatte schreien hören, als es zu Boden fiel, und Ági und Virág schauten auf den Haufen blonder Locken zu ihren Füßen, den Ági erst nach Stunden zusammenkehrte, vielleicht, weil sie glaubte, was Isti gesagt hatte. Virág fragte später, was haben sie geschrien, diese Haare?, und Isti erwiderte, keine Worte, es ist nur ein Ton gewesen, ein heller Ton.
Mein Vater schlief draußen in der Sommerküche, wo Ági kochte, seit es im Frühling wärmer geworden war. Er schlief zwischen Töpfen und Pfannen auf einer Liege, ohne Decke, ohne Kissen, neben einer Schüssel, in die Ági kein Wasser mehr gegossen hatte, seit sie wußte, mein Vater badete jeden Abend im See. Über ihm hingen Töpfe, Körbe und Kellen, und manchmal löste sich etwas und fiel auf seinen Kopf, und unter ihm standen Weckgläser und leere Flaschen, die erst im Herbst wieder gefüllt wurden. Wenn Ági morgens Eier in die Pfanne schlug, wachte mein Vater auf, setzte sich in den Schatten der Sommerküche, und Ági brachte ihm sein Frühstück. In den heißen Nächten im Juli und August schlief mein Vater mit nacktem Oberkörper auf einem Liegestuhl auf der Terrasse. Ági und Virág hatten nichts dagegen. Die Mücken zerstachen ihn jedesmal. Sie stachen in seine Lippen, seine Lider, in seine Wangen, in die Spitzen seiner Finger, und Virág sagte beim Frühstück, Kálmán sieht aus wie ein Boxer nach einem verlorenen Kampf.
Onkel Zoltán vergaß, wer wir waren, und jedesmal staunte er über uns, wenn wir vor seinen Augen die Treppe hinabstiegen, durch den Garten liefen, wenn wir uns zu ihm unter den Wein auf die Veranda setzten, mit ihm an einem Tisch aßen oder wenn Virág und Ági so mit uns sprachen, als kennten sie uns schon lange. Zoltán hielt meinen Vater mal für seinen Bruder, mal für seinen Vater, dann für Ágis Vater, für den Nachbarn,
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