Der Schwimmer: Roman (German Edition)
beide daran glaubten, wußten sie, wie man etwas vom anderen nur wissen kann, wenn man Tag für Tag nebeneinander einschläft.
Obwohl der Winter wärmer war als bei uns, so warm, daß man ihn für einen späten Herbst oder einen Frühling ohne Licht halten konnte, fiel in einer der ersten Nächte des neuen Jahres Schnee. Er bedeckte die Dächer des Städtchens mit seinen Antennen, die schmalen Wege, die nackten Bäume und Gleise unter der Gaststätte. Die Schienen verschwanden unter dem Schnee, kein Zug konnte mehr fahren und deshalb kein Teller, keine Tasse mehr zittern, zum ersten Mal, seit meine Mutter und Vali hier angekommen waren. Selbst die Wirtin sprach leiser als sonst, und Vali sagte, sie paßt sich der Stille auf den Gleisen an.
An ihrem freien Montag zogen meine Mutter und Vali ihre Mützen an, dann die Stiefel, die ihnen die Wirtin überlassen hatte, liefen bis zu den Wiesen am Stadtrand, setzten sich dort auf eine Bank und sahen anderen dabei zu, wie sie mit ihren Schlitten den Hügel hinabfuhren, wie sie von ihren Schlitten fielen, wie sie einander durch den Schnee zogen und Spuren hinterließen, als wollten sie etwas in den Schnee schreiben.
Irgendwann stand meine Mutter auf, ging auf den Hügel zu, setzte ein fremdes Kind in Schal und Mütze auf seinen Schlitten und zog es dann so lange im Kreis über diese Wiese, bis jemand kam, um ihr das Seil aus der Hand zu nehmen. Meine Mutter stand eine Weile dort, und ein bißchen sah sie aus, als habe man sie abgesetzt, ausgesetzt, als habe man sie vergessen. Vali packte sie am Arm, zog sie weg von diesem Hügel, und dann liefen sie eine Zeitlang über die Wiesen, über den Schnee, ohne etwas zu sagen, und obwohl ihre Stiefel und Füße naß waren, kehrten sie erst zum Bahnhof zurück, als es längst schon dunkel war.
Vali und meine Mutter verließen die Stadt bald darauf, warum, wußten sie selbst nicht mehr genau. Vielleicht, weil die Wirtin glaubte, ihr Mann würde die beiden zu oft und zu freundlich ansehen, und weil sie an einem Morgen in der Spülküche, vor den Augen aller, mit ihrer leeren Geldbörse winkte und so tat, als hätten Vali und meine Mutter das Geld genommen. Die Wirtin öffnete den Geldbeutel, drehte ihn um und schüttelte ihn, als versuchte sie, noch einen Pfennig darin zu finden, und sie machte ein Gesicht wie am ersten Tag, als sie Vali und meiner Mutter gezeigt hatte, wieviel sie auf ihre Teller schöpfen durften.
Meine Mutter machte sich nicht die Mühe, die Wirtin dazu zu bringen, ihr Zimmer zu durchsuchen, in ihre Mäntel, Taschen, Betten, unter ihren Teppich und hinter ihren Spiegel zu schauen, zumal auch die anderen wußten, daß niemand außer der Wirtin die Geldbörse geleert hatte. Meine Mutter wollte nicht länger bleiben, und Vali rief die Brüder Máté an, noch vom Kücheneingang aus, neben der Tür ohne Schloß, gleich nachdem die Wirtin ihre leere Geldbörse wieder eingesteckt hatte. Sie sagte ihnen, dies sei kein Ort, an dem sie länger bleiben würden, und die Brüder Máté versprachen, für Vali und meine Mutter Arbeit zu finden, in der Fabrik, in der auch sie arbeiteten, in einer Stadt, ungefähr in der Mitte des Landes.
Meine Mutter und Vali waren nicht wirklich traurig darüber, gehen zu müssen. Seit die Wirtin sie beschuldigt hatte, verzichteten sie sogar auf ihr Essen aus den Töpfen, ohne daß es ihnen schwerfiel. Inge weckte sie am Morgen der Abreise, und meine Mutter und Vali stellten ihre Stiefel vor die Wohnungstür der Wirtin, bevor sie das Haus verließen, weil sie nicht einmal ein Geschenk mitnehmen wollten. Inge brachte sie zur Bahn, sie stiegen die Treppen hinab, nebeneinander, über den dicken Teppich, so früh am Morgen, daß es noch dunkel war, und Inge fragte, wollt ihr einen Kaffee, ich kenne eine schöne Gaststätte hier, mit einer Kellnerin, ihr werdet sie mögen, und dann lachten sie, zum ersten Mal wieder, alle drei lachten sie laut, und Inge blieb stehen und fragte: Was mache ich jetzt ohne euch?
An den Gleisen weinte sie ein paar Tränen, befahl den beiden, zur Hochzeit zurückzukommen, sagte, sie würde die Kartenspiele vermissen, und die Art, wie meine Mutter und Vali das A sagten, nie als A, immer als O, vor allem aber ihre Namen, ihre königlichen Namen würden ihr fehlen, und dann hatte sie einige Male hintereinander Valerie und Katharina gesagt, Valerie und Katharina. Sie hatte die Fahrkarten besorgt und darauf bestanden, von Vali und meiner Mutter kein Geld dafür zu
Weitere Kostenlose Bücher