Der Schwimmer: Roman (German Edition)
Abend, nachdem meine Mutter das schmutzige Wasser in den Rinnstein gegossen hatte, gingen sie und Vali auf einer breiten Treppe und einem dunklen Teppich in ihr Zimmer über der Gaststätte. Sie teilten es mit der Kellnerin Inge, mit der sie kaum sprechen konnten. Trotzdem verbrachten sie die wenigen freien Abende mit ihr, lagen auf den Betten, blätterten in Inges Katalogen, durch die Mäntel und Kleider dieses Winters, spielten an einem kleinen Tisch unter dem Fenster Karten, einfache Spiele, die Inge ihnen schnell beigebracht hatte, und hörten die neuesten Schlager, aus einem kleinen Radio mit Antenne, das sie auf die Fensterbank stellten, obwohl die Wirtin gesagt hatte, sie dürften nichts auf diese Fensterbank stellen.
Von Inge lernten sie die ersten deutschen Worte. Inge sagte sie laut vor, und Vali und meine Mutter sprachen sie mit ihrem Akzent, den sie nie mehr ablegen würden, nach, so lange, bis Inge zufrieden war. Guten Tag. Für diesen Brief Marken bitte. Danke schön. Eins. Zwei. Drei. Zwei Stück davon bitte. Viel Glück. Auf Wiedersehen. Hin und wieder zeigten meine Mutter und Vali auf eine Schlagzeile in den Zeitschriften, und Inge erklärte sie mit Gesten und einfachen Worten, die sie immerzu wiederholte. Inge drehte den Wasserhahn auf und sagte: Wasser, öffnete das Fenster und sagte: Himmel, spannte den Schirm auf und sagte: Regen, und meine Mutter und Vali lachten und sagten, ja, Regen. Dieses Wort hatten sie schon vorher gekannt, schon vor Inge, schon seit ihrem ersten Tag hier.
Auch was Rot, was Gelb, was Grün, was Braun war, lernten sie schnell, für die Farben der wenigen Kleider in ihrem Schrank, die sie untereinander tauschten für ihre Spaziergänge an ihrem freien Montag, wenn die Gaststätte am Nachmittag geschlossen wurde und sie sich vor ihrem Spiegel frisierten, um durch die Stadt zu gehen, wenn Inge etwas Parfum auf ihre Handgelenke tupfte und sagte, sie sollten keine Handschuhe überziehen und die Ärmel ihrer Mäntel etwas hochschieben. Inge nannte die beiden nicht Vali und Kati, sondern Valerie und Katharina, und im Scherz fragte sie immer wieder, warum muß jemand mit solchem Namen in einer Spülküche arbeiten und den Dreck von den Böden wischen?, und Vali und meine Mutter sagten, das wüßten sie auch nicht.
An Heiligabend nahm Inge sie mit zu ihrer Familie. Nicht nur, weil Vali und meine Mutter an diesem Tag kleiner aussahen als sonst, so klein, daß Inge sagte, sie habe Angst, daß sie weggeschrumpft, aufgelöst seien, bis sie zurückkommen würde. Sie wolle die beiden lieber mitnehmen, als sie nachher in den Fasern des Teppichs suchen zu müssen - aber nicht nur deswegen. Sie sollten sie begleiten, weil Weihnachten sei, sagte Inge, und mit Weihnachten sei es doch immer so eine Sache, auch für sie sei es so eine Sache, das mit Weihnachten. Und in einer Stadt wie dieser, mit ihren Dächern und Straßen in Grau, dürfe an Weihnachten niemand allein sein, auch Vali und meine Mutter nicht, die auf ihren Betten saßen und kaum etwas von dem verstanden, was Inge sagte, jedenfalls nicht sofort. Sie wußten nicht, was Inge im Teppich suchen wollte, aber das Kleinerwerden und Verschwinden, das verstanden sie sehr wohl, und sie wunderten sich darüber, daß die Kellnerin Inge so etwas sah und sagte. Ob es ein Gesetz sei, daß an Weihnachten niemand allein sein dürfe?, fragte meine Mutter, Gesetz war eines der wenigen Worte, das sie in den vergangenen Wochen gelernt hatte. Inge antwortete, ja, es sei ein Gesetz, und Vali sagte, wenn es ein Gesetz sei, dann müßten sie wohl mitkommen.
Inge wußte, die Brüder Máté hatten am Morgen in der Gaststätte angerufen, auf dem Apparat im Kücheneingang, neben einer Tür ohne Schloß, die man auftreten konnte und die eine Weile im Rahmen hin und her schwang. Die Wirtin hatte so getan, als sei es nicht unerwünscht, wenn jemand anrief, sondern willkommen. Inge wußte, daß Pál gefragt hatte, was habt ihr gegen diese Wirtin?, daß Vali ihr Gesicht verzogen und wiederholt hatte, ja, was haben wir bloß gegen diese Wirtin? Sie hatte gesehen, daß Vali und meine Mutter die Mäntel und den Schirm genommen hatten und losgegangen waren, um durchs Städtchen zu laufen, und sie hatte nicht mitgehen müssen, um zu wissen, wie leer die Straßen an diesem Tag waren, wie es klang, wenn der Regen auf diese Straßen fiel, und wie es war, zu zweit unter einem Schirm an diesem Tag durch diesen Regen zu laufen. Als Inge vor dem kleinen Spiegel ihr
Weitere Kostenlose Bücher