Der Schwimmer: Roman (German Edition)
hatten durch hohe Fenster hinaus auf die Straße geschaut, wo man an den wenigen heißen Tagen wartete, um Eis in der Waffel zu kaufen. Hin und wieder hatten sie Münzen in einen Automaten fallen lassen, hatten ein und dieselbe Musik gewählt, jedesmal, und der Kellner, der ihr Freund war und hinter der Theke Gläser polierte, hatte sein Tuch weggelegt bei diesem einen Lied, das er von Anfang bis Ende mitsingen konnte. Meine Mutter hatte ihm zugerufen: Ragazzo!, Cavaliere!, das hatte er ihr beigebracht, und jetzt sagte sie es bei jeder Gelegenheit, und dann hatte er mit ihr oder mit Vali getanzt, hatte sich gegeben wie die Schlagersänger, die sie kannten, hatte ihre Namen gesungen und dabei das I langgezogen, Valeri-ii-ia und Cateri-ii-na, und wieder: Valeri-ii-ia und Cateri-ii-na. In der Eisdiele hatte man einen Augenblick die Löffel beiseite gelegt und ihnen zugeschaut, und manchmal hatte der Kellner mit Vali oder meiner Mutter sogar hinaus auf die Straße getanzt, wirklich hinaus auf die Straße. Selbst in jenem Sommer hätten sie dort getanzt, der kein Sommer zum Tanzen gewesen sei, sagte Großmutter, jedenfalls nicht für die Deutschen, denen man in jenem August einen Zaun zwischen Ost und West gesetzt hatte. Sie tanzen am hellichten Tag, mit einem Fremden?, fragte Ági, meine Großmutter sagte: ja, und es klang nicht, als würde sie sich dafür schämen, es klang vielmehr so, als sei es in dieser Welt, in der meine Mutter jetzt lebte, das Natürlichste, wenn sie und ihre Freundin am hellichten Tag zwischen blauen Gläsern mit einem Italiener tanzten, während zur Straße hinaus Eis verkauft wurde.
In der ersten Zeit hatte meine Mutter jede Woche drei Briefe an uns geschrieben, kurze Briefe, in denen kaum etwas gestanden hatte, wie Großmutter sagte, nichts, was sie oder uns hätte verraten können, was immer das heißen sollte. Kaum einer dieser kurzen Briefe hatte uns erreicht, obwohl meine Mutter nie mehr geschrieben hatte als: Es regnet. Ich bin zufrieden mit meiner Arbeit. Ich bin gesund. Wir haben eine Wohnung, Vali und ich. Im Winter 1956 hatte ihnen jemand im Lager geholfen, einen Brief zu schreiben, deutlich genug sollte er sein, damit man wußte, wer ihn schreibt, aber nicht zu deutlich, um niemanden zu gefährden, an den er gerichtet war, und das Rote Kreuz hatte ihn weitergegeben an den Sender Freies Europa. Nur so viel hatten sie geschrieben, Vali und Kata grüßen euch, gut geht es uns, wir sind im Westen, wir grüßen den Vater, die liebe Mutter, die geliebte Tochter, den geliebten Sohn, und im Radio hatte es jemand vorgelesen, an einem Samstag, gegen drei Uhr nachmittags.
All das schien mir zu lange her, um mich jetzt noch daran zu erinnern. Es war zu weit entfernt, um es zurückzuholen, hierher, an unseren Tisch, an dem wir saßen und auf ein Tablettengläschen starrten, als sei es etwas, das uns verbinden könnte mit einer Zeit, die neben uns lief, ohne uns zu streifen, oder mit einem Ort, von dem wir jetzt gehört hatten, den wir aber nicht kannten, bestimmt nie kennen würden. Es war zu schwierig, diese Bilder neu zusammenzufügen, auch weil ich mich nicht erinnern wollte, nicht an Mancis Küche, nicht an mich, wie ich dort gesessen und auf Stimmen aus einem Radio gehört hatte.
Großmutter hatte ein Bild mitgebracht und zeigte es uns jetzt. Während sie danach suchte, war es still geworden, und bei jedem seiner Atemzüge konnte ich hören, wie Zoltán Luft durch die Nase einsog. Ich hatte Angst, auf das Foto zu schauen, auf dessen Rückseite jemand mit einem blauem Stift Weihnachten 1956 geschrieben hatte. Ich fürchtete, etwas zu sehen, das ich nicht sehen wollte, das ich nicht erkennen würde, aber dann sah ich doch nur meine Mutter und Vali. Sie trugen ihr Haar kurz, ihre Lippen hatten sie dunkel nachgezeichnet, die Arme umeinander gelegt und versuchten ein halbes Lächeln.
Großmutter schwieg, und Isti sah auf den Boden, als habe er etwas fallen lassen, das er jetzt suchen müsse. Er senkte seinen Kopf zwischen die Knie, und für einen Moment sah es aus, als würde er mit dem Stuhl nach vorne kippen. Virág schaute auf Isti, legte ihre Hand auf sein Haar, Zoltán sagte, leer ist es geworden bei uns, und es klang, wie es klingen mußte, wie ein Geheimnis, das er bislang für sich behalten hatte und erst jetzt aussprach. Ági stand auf, strich übers Wachstuch, blickte aus dem Fenster und sagte, es regnet nicht mehr, seht nur, es hat aufgehört zu regnen, geht hinaus. Virág,
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