Der Schwur des Maori-Mädchens
auf, als das Schlussgebet gesprochen wurde. Er warf seiner Schwester einen flüchtigen Blick zu. Über deren Gesicht huschte gerade ein verlegenes Lächeln, aber wie er enttäuscht feststellen musste, galt es nicht ihm, sondern Henry. Anscheinend führte der einmal wieder das große Wort und spielte den Maulhelden.
Widerwillig lauschte Matthew der großsprecherischen Schilderung seines Ziehbruders mit halbem Ohr. Der erzählte gerade in allen Einzelheiten von einem Riesenfisch, den er neulich gefangen hatte. Dabei gestikulierte er mit den Händen wild in der Luft herum, um seinen staunenden Zuhörern die ungeheure Größe seines Fanges zu demonstrieren. Die beiden Frauen hingen förmlich an seinen Lippen.
Matthew wunderte sich darüber, wie sehnsüchtig seine Schwester ihren Ziehbruder anblickte. Sie himmelt ihn geradezu an, dachte er voller Unmut. Insgeheim wünschte er sich, sie würde ihn auch einmal so grenzenlos bewundern. Doch dazu steht sie viel zu sehr unter dem Einfluss unserer Zieheltern, mutmaßte er zornig.
Der Fisch war in Henrys Schilderung inzwischen um ein Vielfaches gewachsen. Nun maß er plötzlich mehr als die Spanne seiner Arme, und Henry stand auf, um die Ausmaße seines Anglerglückes ausladend zu beschreiben.
»Lieber Bruder, das war sicherlich ein Wal, den du da gefangen hast, und du hast es nicht mitbekommen«, spottete Matthew.
Henry verübelte ihm die Bemerkung nicht, sondern lachte aus voller Kehle. »Ich sollte auf einem der Schiffe anheuern!«, rief er gut gelaunt aus. »Ich wäre ein hervorragender Walfänger.«
Walter aber maß Matthew mit einem abschätzigen Blick. »Wenn du deinen Scharfsinn doch endlich einmal nützlich an den Mann bringen würdest!«, zischte er.
Matthew jedoch tat so, als hätte er die Worte überhört. Er hasste den Tadel seines Ziehvaters. Und alles nur, weil er nicht jubelte, dass er in die Mission nach Kerikeri abgeschoben werden sollte. Wie oft hatte ihm der Alte in den Ohren gelegen, er sei dazu geschaffen, in die Dienste der Kirche zu treten. Wahrscheinlich erhoffte er sich von der Stellung in der Druckerei, dass er, Matthew, doch noch in die Fußstapfen seines Ziehvaters treten würde. Doch das vermochte er sich beim besten Willen nicht vorzustellen. Reichte es nicht, dass sie alle Christen geworden waren? Sogar der große Hone Heke, der es liebte, Gottes Wort unter seine Leute zu bringen. Dabei war er zum Krieger geboren und nicht zum Prediger. Wie so oft fragte sich Matthew, ob diese Missionare nur zu dem einen Zweck in sein Land gekommen waren - um sie mit frommen Worten zu umgarnen und Schwächlinge aus ihnen zu machen? Und um genau das zu erfahren, musste er sich heute Abend mit den Maori von Hone Hekes Stamm treffen. Damit sie nicht länger tatenlos zusahen, wie die Briten sich als Herrscher über das Land aufführten. Die Pakeha redeten viel und gern vom großen Vertrag. Aber waren vor vier Jahren in Waitangi wirklich die Rechte der Maori verhandelt worden? Oder war es nicht vielmehr darum gegangen, sie auf friedliche Weise zu Knechten der neuen Siedler zu machen?
Ja, Vater, ich werde meinen Scharfsinn in den Dienst einer besseren Sache stellen, ging es Matthew entschlossen durch den Kopf. Darauf kannst du dich verlassen. Es hatte Jahre gedauert, bis ihm, dem stolzen Häuptlingssohn Matui, das Wort Vater über die Lippen gekommen war. Walter Carrington hatte es ihm regelrecht eingeprügelt. Wie oft hatte Matui mit zusammengekniffenen Lippen vor seinem Retter gestanden, doch irgendwann hatten sich diese Worte wie von selbst geformt. Vater. Es war ja nicht so, dass er keinen Respekt vor diesem Mann hatte. Im Gegenteil, er bewunderte dessen unermüdlichen Einsatz für seine Leute, dem sich der Reverend mit wahrer Leidenschaft verschrieben hatte. Und er tat das alles sicher auch nicht aus Eigennutz, sondern in der festen Überzeugung, ein gutes Werk zu vollbringen. Und doch steckte hinter allem eine Haltung, die Matthew im Grunde seines Herzens zutiefst missfiel. Hatte der Vertrag von Waitangi nicht vorgesehen, dass Maori und Pakeha gleichberechtigte Partner waren? Warum führten sich diese Briten dann so auf, als wären sie, die Maori, ihnen untergeordnet? Warum fühlte er sich im Haus des Reverends immer noch wie ein Fremder? Anders als Maggy, die mit rot glühenden Wangen und voller Aufmerksamkeit Henrys Worten lauschte. Wie Matthew nun mit halbem Ohr mitbekam, war dieser inzwischen bei einer abenteuerlichen
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