Der Schwur des Maori-Mädchens
dem Staub machen. Selbst wenn er keine Rücksicht auf seine Zieheltern nahm, war da immer noch seine Schwester.
Er senkte den Kopf und starrte seine nackten Füße an. »Ich kann nicht mit euch ziehen, ich muss nach Hause«, raunte er beinahe beschämt.
»Dein Zuhause ist in Kaikohe. Deine Ahnen wurden vor vielen Jahren von dort vertrieben. Opanga war ein friedliches Dorf, aber Feinde der Nga Puhi überfielen es, und die wenigen Überlebenden flohen in die umliegenden Haine. Das waren deine Vorfahren. Ein paar Jahre darauf rächten sie sich und raubten aus dem Dorf ihrer einstigen Angreifer die schönsten Frauen. Dafür löschten die Feinde dann später das Dorf deiner Eltern aus, aber nun herrscht zwischen unseren Stämmen Frieden, und du gehörst zu uns. Wir brauchen jeden Krieger.« Das war keine Bitte, sondern ein Befehl.
Matthew aber nahm all seinen Mut zusammen und blickte dem Häuptling offen ins Gesicht. »Ich kann nicht, Hone Heke, denn der Reverend rettete mir einst das Leben, als mich unsere Feinde im Fluss ertränken wollten ...«
»Mein Sohn, die Zeiten haben sich geändert. Wir müssen gegen sie kämpfen, um zu überleben.«
»Sicher, ich verstehe das auch«, entgegnete Matthew gequält. »Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum ich unbedingt zurück nach Paihia muss.«
»Nenn ihn mir!«, zischte der Häuptling.
Matthew atmete tief durch. »Ich habe eine kleine Schwester, die ich auf keinen Fall alleinlassen kann.«
Hone Hekes strenger Blick wurde sichtbar weicher. »Nein, deine Schwester darfst du in der Tat nicht allein bei den Pakeha zurücklassen, aber ich hoffe, dass du eines Tages mit ihr nach Kaikohe kommst.«
»Das werde ich gewiss tun«, versprach Matthew erleichtert.
»Aber auch wenn du nicht mit uns ziehst, wirst du wenigstens unseren Kampf unterstützen?«
»Ja, natürlich, und wie. Wenn ihr mich braucht, bitte schicke Waaka und Tiaki. Ich werde einen Weg finden, mich fortzustehlen.«
»Hier, er gehört dir!« Hone Heke drückte Matthew einen der hölzernen Stöcke in die Hand. »Das ist dein Taiaha, mein Sohn. Gib gut darauf acht. Eines Tages wirst du damit kämpfen.« Dann zog der Häuptling seinen Umhang aus, auf dem ein grün-rotes Zickzackmuster prangte, und reichte ihn Matui mit einer feierlichen Geste. »Zum Zeichen, dass du mein Sohn bist«, fügte Hone Heke in reinem Englisch hinzu.
Gerührt nahm Matthew die Geschenke des Häuptlings entgegen, doch ehe er sich bei ihm bedanken konnte, waren er und seine Krieger lautlos zu ihren Kanus geeilt. Nur Matthew war zurückgeblieben. Mutterseelenallein! Doch der Gedanke, der einzige Kämpfer am Fahnenmast zu sein, ängstigte ihn nicht. Im Gegenteil, er empfand Stolz, dass er dabei gewesen war, und konnte sich kaum vom Anblick des gefallenen Mastes lösen. Er begann mit den Füßen aufcustampfen und brüllte, so laut er konnte: »Ka mate, ka ora, ka mate, ka ora!«
Als er sich schließlich ausgetobt hatte, suchte er seine Kleidung zusammen, doch tief in ihm sträubte sich etwas dagegen, in seinen Sonntagsanzug zu schlüpfen. Er hüllte sich in Hone Hekes Mantel, nahm seine alte Kleidung unter den Arm und machte sich in dem Kilt und dem Umhang aus Flachs auf den Rückweg.
Selbst als er den Weg durch den Busch ging, wurde ihm nicht bang. Er fühlte sich unsterblich. Lediglich seine bloßen Füße schmerzten ein wenig. Seit er im Haus der Missionare lebte, hatte er nie wieder barfuß laufen dürfen. Nun war er es nicht mehr gewohnt, ohne Schuhe über Stock und Stein zu gehen, doch er biss die Zähne zusammen. Ich besitze die Füße der Maori, sie müssen es nur wieder lernen, dachte er voller Stolz.
Sein Wohlbefinden änderte sich allerdings schlagartig, als er nach Kororareka kam. Einmal abgesehen davon, dass ihm der Lärm beinahe schmerzhaft in den Ohren dröhnte, blieben die Pakeha auf der Straße stehen und gafften ihn an. Ja, einige zeigten sogar mit dem Finger auf ihn, andere lachten, wieder andere verhöhnten ihn lautstark. Dass er in seiner kriegerischen Aufmachung auffallen könnte, daran hatte er nicht gedacht. Nun war es zu spät, sich auf die Schnelle in den Sohn des Missionars zurückzuverwandeln. Da half nur eines: gesenkten Hauptes zum Steg zu eilen. Zu allem Überfluss stellte sich ihm nun auch noch jener Bruder der katholischen Mission in den Weg, der ihn vorhin bereits aufgehalten hatte. Bruder Jean, ein unangenehmer hagerer Kerl mit einer Hakennase. Matthew
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