Der Schwur des Maori-Mädchens
durchkommen, Maggy vorzugaukeln, sie habe sich alles nur eingebildet. Sie musste das Mädchen anders zum Schweigen bringen.
»Willst du, dass dein Vater alles mitbekommt?«, fragte sie streng.
Maggy schüttelte heftig den Kopf.
»Gut, dann sei leise.«
»Aber so glaub mir doch! Er war in meinem Zimmer, und dann hat er mir wehgetan.«
»Du hast ihn also in dein Bett gelassen? Was bist du nur für ein verdorbenes Geschöpf!«, spie Emily verächtlich aus.
Maggy hörte auf zu weinen und blickte ihre Ziehmutter aus schreckensweiten Augen an. »Aber... ich... ich habe ihn doch so lieb ... ich wollte doch nicht...«
»Das hättest du dir vorher überlegen sollen. Henry hat doch glauben müssen, dass du ein leichtes Mädchen bist. Es ist allein deine Schuld. Was du getan hast, ist eine große Sünde.«
Maggy rang nach Luft. »Aber ich ... ich wollte doch nicht, dass... Ich ...«
»Du, mein Kind, wirst dich in Zukunft von meinem Sohn fernhalten und ihn nie wieder unter vier Augen sprechen. Hast du gehört? Nie wieder! Und wenn er noch einmal an deiner Tür klopfen sollte, ist es deine Verantwortung, ihn wegzuschicken. Wenn du das beherzigst, wird der Herr dir verzeihen.«
»Ich will alles tun, was du sagst«, erwiderte Maggy mit kläglicher Stimme und am ganzen Körper zitternd.
»Gut, dann wirst du wieder mein braves Mädchen sein.« Emily nahm Maggy zur Bekräftigung ihrer Worte in die Arme und drückte sie fest an sich. Wie gut, dass sie mein Gesicht nicht sehen kann, durchfuhr es Emily, während ihr Tränen die Wangen hinunterliefen. Nicht das Kind hatte sich versündigt, sondern Henry und sie selbst, aber sie hatte keine andere Wahl. Wenn ruchbar würde, welche Schuld ihr Sohn auf sich geladen hatte, würde die Familie Hobsen ihn niemals mehr als Schwiegersohn akzeptieren. Sie drückte das Mädchen, das jetzt stumm weinte, noch einmal kräftig an sich. Ja, sie glaubte ihr, dass sie Henry reinen Herzens begegnet war. Trotzdem war sie gezwungen gewesen, der armen Maggy weiszumachen, dass sie große Schuld auf sich geladen hatte. Wie hätte Emily sie sonst zum Schweigen verdonnern können?
Langsam löste sie sich aus der Umarmung mit ihrem Ziehkind. »Und kein Wort zu deinem Vater oder deinem Bruder!«
»Kein Wort«, echote das Mädchen schwach.
»Dann schlaf jetzt und träum etwas Schönes«, säuselte Emily, während sie Maggy zärtlich zudeckte. »Ich habe dich lieb«, fügte sie hinzu, als sie in das todtraurige Gesicht blickte, bevor sie aus dem Zimmer huschte.
Maggy aber konnte nicht schlafen. Sie presste das Gesicht tief in das Kissen, damit keiner im Haus ihre Verzweiflungsschreie hören konnte. Sie wusste nur eines ganz genau: Es würde ihr nicht schwerfallen, einen Bogen um Henry zu machen, denn dort, wo vorher ihr Herz für ihn geschlagen hatte, klaffte eine schmerzende Wunde. Und das Schlimmste daran war, dass sie allein die Schuld daran trug. Ja, sie war schuld, dass er ihr so wehgetan hatte. Dieser Glaube jedenfalls war bereits tief in ihrem Herzen verankert.
Maiki Hill, Kororareka (Russell), Mai 1844
Matthew hatte noch eine ganze Weile wie erstarrt dagestanden und sich nicht vom Fleck gerührt, bevor er der Stimme seines Vaters gefolgt war und sich eilig zum Gipfel des Maiki begeben hatte.
Nun stand er seit geraumer Zeit halb verborgen hinter einem Kauribaum und beobachtete fasziniert die Zeremonie der Krieger. Sie tanzten, stampften mit den Füßen auf den Boden, sangen und zogen Grimassen. In Matthew stiegen dunkle Erinnerungen an seine Kindheit auf. Wie oft hatten die Männer seines Dorfes den Haka getanzt. Er entsann sich besonders an das eine Mal. An den Tag, an dem der feindliche Stamm das Dorf umzingelt hatte. Wie stolz hatte sein Vater die Krieger darauf eingeschworen, sich bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen, doch dann war alles ganz schnell gegangen, denn die Feinde waren im Besitz von Musketen gewesen. Sie hatten ein leichtes Spiel gehabt ...
»Tama«, donnerte eine dunkle, kräftige Stimme durch die mondklare Nacht zu ihm herüber. Matthew hätte sie unter Hunderten wiedererkannt. Sie gehörte Hone Heke. Der Junge erschrak und zog sich rasch hinter den Baum zurück, doch da umzingelten ihn bereits Waaka und Tiaki, die beiden Maori, mit denen er sich verabredet hatte. Zitternd verließ Matthew seine Deckung und folgte ihnen. Sie brachten ihn geradewegs zum Häuptling, der inmitten seiner Krieger stand und sie
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