Der Schwur des Maori-Mädchens
Abend, September 1844
Matthew strich sich immer wieder gequält mit den Fingern über die Schläfen. In seinem Kopf hämmerte es wie verrückt. Lag es an dem Zigarrenqualm, der das Zimmer, in das sich die Herren zurückgezogen hatten, in eine blaue Wolke hüllte? Oder an den laut dröhnenden Stimmen der angetrunkenen Männer, allen voran der Stimme von John Hobsen? Doch auch Henry hatte reichlich dem Alkohol zugesprochen. Sein ohnehin eher rötliches Gesicht glühte im Schein der flackernden Kerzen wie ein Feuerball. Dazu grinste er in sich hinein, was ihm ein leicht dümmliches Aussehen verlieh.
»Na, mein Junge, willst du nicht endlich zu deiner jungen Frau?«, fragte John Hobsen anzüglich, woraufhin Henry augenblicklich von seinem Sitz aufsprang, ins Wanken geriet und sich so heftig auf den hölzernen Stuhl zurückfallen ließ, dass dieser unter seinem Gewicht krachend zusammenbrach. Die Antwort der anderen Männer war ein ohrenbetäubendes Gejohle.
Matthew hielt sich genervt die Ohren zu, während er angewidert in die Runde blickte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Einzige, der sich außer ihm nicht an dem Männervergnügen beteiligte, Walter war. Wenn sich Matthew recht erinnerte, hatte sein Ziehvater kaum ein Wort gesprochen, seit er vorhin auffallend blass auf das Fest zurückgekehrt war. Weit früher als seine Ziehmutter. Irgendetwas ging in diesem Haus vor, aber wenn Matthew ehrlich war, interessierte ihn das bei Weitem nicht so brennend wie die Ereignisse drüben auf dem Maiki Hill. Er konnte sich nicht helfen, aber in Gedanken war er bei Hone Heke und seinen Leuten. Je später der Abend wurde und je länger er seine Zeit zwischen betrunkenen Pakeha verschwendete, desto häufiger schweiften seine Gedanken zum Fahnenmast.
In diesem Augenblick aber nahm ein ungewöhnliches Bild seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Sein Ziehvater stürzte nämlich ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheit ein Glas schweren Portweins in einem Zug hinunter. Wenn er überhaupt Alkohol zu sich nahm, dann stets in Maßen. Dass er mit Todesverachtung ein Glas Wein trank und sich gleich darauf ein weiteres einschenkte, das er ebenso hastig hinunterschluckte, kam Matthew höchst seltsam vor. Als sein Ziehvater sich jetzt zu erheben versuchte, war unschwer zu erkennen, dass es nicht die ersten Gläser gewesen waren. Walter geriet gefährlich ins Schwanken und konnte sich gerade noch am Tisch abstützen. Sonst wäre er gefallen.
»Walter! Du kannst wohl gar nichts vertragen«, lästerte John.
»Vater trinkt nie!«, lallte Henry und lachte dröhnend.
»Halt deinen Mund!«, gab Walter in ätzendem Ton zurück.
In einem derart scharfen Ton hatte Matthew seinen Ziehvater noch nie zuvor mit Henry sprechen hören. So betrunken der frischgebackene Ehemann auch war, selbst er stutzte. Verwirrt blickte er seinen Vater an, doch der zischte nur bissig: »Geh zu deiner Frau! Ich glaube, sie wartet schon in deinem Zimmer auf dich, aber verfehl ja nicht die Tür!«
Henrys Gesichtszüge entgleisten für den Bruchteil einer Sekunde, doch dann rief er laut lachend aus: »Vater, so kenne ich dich gar nicht! Du bist mir ja einer. Schickst mich zu meinem Weib, damit ich meine ehelichen Pflichten erfülle. Ich mag es, wenn du Spaß machst!«
»Das ist kein Spaß«, erwiderte Walter mit Leichenbittermiene.
»Oh, alter Knabe, ich sage es doch, du verträgst nichts«, mischte sich John Hobsen ein und schlug zur Bekräftigung seiner Worte mit der Faust auf den Tisch. Dabei ging ein Glas zu Bruch. Der Schiffseigner jaulte auf wie ein verwundetes Tier, als er die vielen kleinen Splitter in seiner Hand stecken sah. Dunkelrot floss sein Blut auf die weiße Decke.
Walter aber wankte aus dem Zimmer, ohne John auch nur eines Blickes zu würdigen.
Matthew sah ihm verwirrt hinterher. Er konnte sich beim besten Willen kein Bild davon machen, was hier vor sich ging, aber er spürte, dass etwas Dramatisches in der Luft lag. Er stand sofort auf und rannte hinüber in das Zimmer, wo die Frauen saßen und sich angeregt unterhielten.
»Mutter, bitte komm und bring Verbandszeug mit! Mister Hobsen hat sich an einem Glas verletzt.«
»O John, mein John!«, kreischte Amanda und wollte hastig vom Sofa aufspringen, doch sie war zu schwer und schaffte es beim ersten Versuch nicht, das Gleichgewicht zu halten. Matthew hielt ihr helfend eine Hand hin. Amanda aber ignorierte sie und zischte ihm, als es ihr aus eigener
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