Der Schwur des Piraten

mit der Glocke Alarm.«
    »Was meinst du mit ›etwas‹?«
    »Etwas. Gute Nacht, Junge.«
    Klar. Gute Nacht. Der Captain hatte leicht reden.
    »Captain!«, rief Spinn. »Und wenn es ein Unwetter gibt?«
    »Was für Fragen! Dann läutest du die Glocke und hältst dich gut fest.«
    »Und wenn ich runterfalle?«
    »Dann stirbst du.«
    Fahr zur Hölle!, dachte Spinn.
    Er seufzte, dann kletterte er die Wanten hinauf, bis er den Mastkorb erreicht hatte. Er dankte dem Himmel, dass er in seinem früheren Leben Dieb gewesen war und zu klettern gelernt hatte wie eine Katze.
    Der Mastkorb war nichts weiter als ein niedriges Fass ohne Deckel. Eine Klappe an der Seite des Fasses erlaubte der Wache sich einzuschließen, was die Gefahr hinunterzustürzen und auf dem Deck zu zerschellen etwas geringer hielt. Spinn atmete tief die kalte Abendluft und genoss das sanfte Auf und Ab des Schiffes. Es gefiel ihm hier oben. Es war still und die Luft roch leicht nach Meersalz. Und das war weit besser als der üble Gestank der Piraten.
    Unten auf dem Achterdeck hielt Keepfit das Steuerrad mit beiden Händen fest umschlossen und sorgte dafür, dass das Schiff nicht von seinem Kurs abkam. Sonst war niemand zu sehen.
    »He, du da oben!«, rief der Steuermann. »Halt ja die Augen offen!«
    »Na klar!«, rief Spinn zurück.
    Es wehte ein eisiger Wind. Spinn sehnte sich nach der Wärme der Karibik und dachte an das eigentliche Ziel seiner Reise. Er fröstelte. Da entdeckte er am Boden des Mastkorbs eine Schilfmatte. Um sich aufzuwärmen, wickelte er sich darin ein und verschränkte fest die Arme vor der Brust. Dann setzte er sich und versuchte sich so vor dem scharfen, eisigen Wind zu schützen. Schließlich, dachte er, würde es genügen, hin und wieder den Kopf hinauszustecken und zu kontrollieren, ob alles in Ordnung war.

    Die Zeit schien nicht verrinnen zu wollen. Es herrschte gespenstische Stille. Nur ganz leise hörte Spinn die Wellen gegen den Kiel des Schiffes schlagen. Plötzlich aber erklang aus einiger Entfernung das angstvolle Geschrei von Albatrossen.
    Unmöglich, sagte er sich. Wir sind viel zu weit vom Festland entfernt. Er stand auf und warf einen Blick nach draußen.
    Unten stand Keepfit unbeweglich wie eine Wachsfigur am Steuerrad. Nebelschwaden zogen auf, die schnell dichter und undurchsichtiger wurden.
    Spinn schrie zum Steuermann hinunter: »He! Wir stecken in einer Nebelbank! Ich sehe überhaupt nichts mehr hier oben!«
    Er bekam jedoch keine Antwort.
    Spinn lief es kalt den Rücken hinunter. Wieder schaute er nach unten und hielt erschrocken den Atem an. Vom Schiff war nichts mehr zu sehen, alles war im dichten Nebel verschwunden. Er konnte gerade noch den oberen Teil der Wanten erkennen, an denen er hochgeklettert war. Er schien über dem Nichts zu schweben, über einer weißgrauen Decke, die schwach silbern schimmerte.
    Er kauerte sich auf den Boden des Mastkorbs und wagte nicht, sich zu bewegen. Die hohen, qualvollen Schreie der Albatrosse wurden immer lauter, doch dann verdünnte sich ihr Geschrei und wurde vom schrillen Krächzen zahlloser Raben übertönt.
    Spinn nahm all seinen Mut zusammen und warf erneut einen Blick nach unten. Der Nebel hatte sich gelichtet und das Schiff freigegeben. Was er sah, ließ Spinn vor Schreck erstarren. Das Deck lag voller Leichen. Und auf den Leichen saßen Raben, die mit ihren Schnäbeln große Fetzen Fleisch aus den halb verwesten Leibern rissen.
    Spinn wollte schreien, doch der Schrei blieb ihm im Halse stecken. Voll Grauen starrte er auf das schreckliche Bild, das sich ihm bot.
    Dann sah er Yellowbeards Dreispitz. Die Beine des Captains waren zerfetzt und blutüberströmt, und er hatte Mühe, sich aufrecht zu halten. Vom Degen, auf den er sich stützte, rann eine zähe schwarze Flüssigkeit.
    Als hätte er Spinns Blick gespürt, hob er den Kopf. Unter dem Dreispitz starrte Spinn aus einem entstellten Gesicht ein rot funkelndes Augenpaar entgegen.
    »Spin n …«, rief Yellowbeard.
    Eine schwarze Flüssigkeit quoll aus seinem Mund. Während er an den Leichen vorüberging, erwachten diese zu neuem Leben und erhoben sich. Spinn schlug das Herz bis zum Hals. Er war ganz allein gegen diese grausigen Monster, die ihn nun in teuflischem Chor zu sich riefen.
    Schon kletterten sie, einer nach dem anderen, die Wanten hinauf und erreichten seinen Korb. Verzweifelt versuchte Spinn sie hinabzustoßen, damit sie auf dem Deck zerschellten. Aber es waren zu viele Hände, die nach ihm griffen, und