Der Schwur
du mit Nachtfrost hier auf den Hof reitest. Natürlich in seiner echten Gestalt – riesengroß und schwarz, Mähne und Schweif aus reinem Silber, und den ganzen dummen Gänsen und Herrn Wichtigtuer Kochmann fällt das Kinn bis auf den Fußboden. Und ich auf einem von Asariés Vollblütern. Und danach reiten wir nach Vierlinden und –«
»Hör auf.«
»Was?« Melanie kicherte. »Ist doch lustig, oder nicht? Die würden vielleicht Augen machen!«
»Hör auf«, sagte Sonja noch einmal, und erst da merkte Melanie, dass etwas nicht stimmte. Betroffen schaute sie die Freundin an. »Was ist denn? Heulst du?«
»Quatsch.« Wütend wischte Sonja sich über die Augen.
Melanie legte ihr den Arm um die Schultern. »Ist es wegen Nachtfrost? Er kommt doch bald zurück – auf jeden Fall noch vor Weihnachten.«
»Bist du sicher?«
Melanie zögerte. »Ja, irgendwie schon. Es fühlt sich irgendwie so an. Vielleicht ist es die – die Nebelbrücke. Du weißt schon.«
Sonja zog nur die Nase hoch und wischte sie am Ärmel ab – der war schon so dreckig, dass es nichts mehr ausmachte. Vor sechs Wochen, im Oktober, waren sie und Melanie unversehens in das größte Abenteuer ihres Lebens gestolpert. Sonja hatte im Wald ein verletztes Pferd entdeckt, das sich als waschechtes Einhorn entpuppte und sie durch einen mächtigen Zauber – die »Nebelbrücke« – in ein fremdes Land namens Parva brachte. Dort hatte sie ein seltsames Amulett in Form eines Wolfskopfes gefunden, das der »Spürer«, ein Mann mit finsteren und undurchschaubaren Absichten, ihr wieder abzunehmen versucht hatte. Noch immer wusste sie nicht viel über dieses Amulett. Sie wusste nur, dass seine Zauberkräfte über den Ausgang des Krieges entscheiden konnten, der in Parva tobte.
Sonja war gejagt und gefangen worden, hatte unerwartete Freunde und Verbündete gefunden und war schließlich mit Nachtfrost, dem schwarzen Einhorn, nach Hause zurückgekehrt. Und dort hatte Melanie sich währenddessen mit Sonjas großem Bruder Philipp und einem fremden Jungen namens Darian angefreundet. Darian von Chiarron, Prinz von Parva, war der eigentliche Träger des Amuletts, aber seltsamerweise konnte er es nicht mehr berühren. Nur Sonja konnte es noch anfassen, und so war sie wieder nach Parva aufgebrochen, um es seinen rechtmäßigen Besitzern, dem König und der Königin, zu übergeben. Allerdings war ihr das nicht gelungen, da die beiden spurlos verschwunden waren. Melanie und Darian waren ihr gefolgt und dabei von zwei Hexen gefangen worden. Sie hatten sich nur retten können, indem Melanie von den Hexen eine Aufgabe übernommen hatte, von der sie gar nicht richtig wusste, was sie bedeutete: Sie war jetzt eine Wächterin der Nebelbrücke. Genau wie Ganna, eine weise alte Nomadin aus Parva, und Asarié, die unter dem Namen Waltraud von Stetten eine Vollblutzucht zwölf Kilometer von Sonjas und Melanies Heimatort entfernt führte. Asarié war zu Ganna gereist, um sich mit ihr über die Zukunft zu beraten, und Nachtfrost war nach Parva zurückgekehrt, nachdem er Sonja und Melanie sicher nach Hause gebracht hatte.
Sonja wusste, dass sie ihn irgendwann wiedersehen würde – nur wann? Sechs Wochen waren eine schrecklich lange Zeit, wenn man wartete und wartete und alles andere daneben an Bedeutung verlor. Melanie hatte sie wenigstens überredet, sich gemeinsam mit ihr in der Reitschule Kochmann anzumelden, aber an Tagen wie heute glaubte Sonja nicht mehr, dass das eine gute Idee gewesen war. Sie und Melanie konnten reiten – zumindest konnten sie sich mit und ohne Sattel auf einem Pferderücken halten und ein Pferd dazu bringen, dass es tat, was sie wollten. Aber in jeder Reitstunde kritisierte Herr Kochmann gnadenlos Sitz, Haltung, Hilfen und überhaupt alles, bis ihnen das Reiten nicht mehr den geringsten Spaß machte. Und wie in jedem Reitstall gab es natürlich auch »Papas Lieblinge« – eine Gruppe von Mädchen, die von Herrn Kochmann aus welchen Gründen auch immer bevorzugt wurden und deshalb glaubten, die Neuen ungestraft wegen jeder Kleinigkeit verspotten zu können. Nur die Liebe zu den Pferden hatte Sonja und Melanie davon abgehalten, hier schon nach zwei Wochen alles hinzuschmeißen. Irgendwo mussten sie schließlich reiten – ein Leben ohne Pferde konnten und wollten sie sich beide nicht vorstellen.
Sie verließen die Sattelkammer und überquerten den Hof, der schon wieder von einer dünnen Schneedecke überzogen war. Ein kalter Wind blies ihnen ins Gesicht.
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