Der Schwur
Sie zogen die Schultern hoch und beeilten sich, in den warmen Stall zurückzukommen.
Als sie gerade die hohe, schwere Schiebetür aufzogen, schaute Melanie sich plötzlich um und runzelte die Stirn.
»Was ist?« Sonja drehte sich ebenfalls um, sah aber nur den Hof mit seinen drei Ställen und dem Wohnhaus.
»Der Geruch«, erwiderte Melanie. »Riechst du das auch?«
Sonja schnupperte. Sie roch Schnee, Pferde, Heu … und noch etwas anderes. Es war ein unangenehmer, fauliger Geruch, der nicht hierher gehörte. »Das ist ja ekelhaft. Wo kommt das her?«
Sie schauten sich um, hoben die Nasen in den Wind wie witternde Hunde.
»Ich hab das in den letzten Tagen schon öfter gerochen«, sagte Melanie. »Sogar zu Hause.«
»Vielleicht hat ein Bauer Jauche aufs Feld gekippt, und bei dem Ostwind –«
»Mitten im Winter?«
»Hm, stimmt.« Sonja schaute sich auf dem leeren Hof um. Da war niemand … und sie wusste selbst nicht, was sie an dem Geruch so unangenehm fand, dass er ihr plötzlich Angst einjagte. Es war einfach irgendein Gestank, sonst nichts, und es war absolut lächerlich, sich auf dem Reithof Kochmann vor etwas Unheimlichem zu fürchten. Aber trotzdem fühlte sie, wie sie eine Gänsehaut bekam. Irgendetwas war da draußen in der Dunkelheit.
Und es beobachtete sie.
Blödsinn! Sie sah Gespenster, weil sie die ganze Zeit darauf wartete und horchte, dass Nachtfrost zurückkam! Sie war einfach überempfindlich, das war alles!
»Da ist bestimmt nichts«, sagte sie laut. »Lass uns reingehen.«
Sie schlüpften hinein und zogen die Tür fest hinter sich zu.
Im Stall war es warm, staubig und gemütlich, und während Sonja und Melanie Pferdeäpfel in eine Schubkarre schaufelten, Heu verteilten und ihre Pferde putzten, vergaßen sie den seltsamen Geruch. Herr Kochmann besaß sieben Pferde, die er auf zwanzig Mädchen verteilte, und jeden Donnerstagnachmittag von zwei bis sechs war Sonja für den Hannoveranerfuchs Pedro und Melanie für die braune Holsteinerstute Katinka verantwortlich. Pedro war fett und faul, Katinka knochig und zickig, aber da die beiden Mädchen so etwas schon von den Ponys vom Waldhof kannten, machte es ihnen nichts aus. Sonja wusste, dass sie sich hier trotz der Hänseleien der anderen Mädchen und der Grobheit des Reitlehrers wohlgefühlt hätte, wenn nicht … ja, wenn sie nicht noch vor ein paar Wochen auf einem Einhorn durch eine fremde Welt geritten wäre. Gegen diesen Zauber verblasste alles andere.
Um sechs verabschiedeten sie sich von den Pferden und zogen ihre Handschuhe und Winterjacken an. Die anderen Mädchen beachteten sie nicht, als sie zur Tür gingen, und unterhielten sich auf der Stallgasse weiter über Turniere. Melanie und Sonja schoben die Stalltür auf. »Tür zu!«, schrie Vera ihnen nach; das war der einzige Abschied.
Draußen fiel der Schnee in dicken Flocken, es war dunkel und kalt. Im Licht der Stalllaterne wirkte der verschneite Hof still und friedlich. Aber der Geruch hing noch immer in der Luft.
Ein kurzer Blick, und sie waren sich einig. Sie hatten beide nicht die geringste Lust, im Dunkeln herumzustapfen und irgendetwas Ekelhaftes zu suchen. Sollten sich doch Kochmanns Lieblinge darum kümmern!
Sie fegten den Schnee von ihren Fahrradsätteln, schlossen die Räder auf und machten sich auf den Heimweg. Weit war es nicht, nur zwei Kilometer »übers Feld« und am Waldrand entlang. Im Sommer war das sicher eine angenehme Strecke, aber jetzt wehte ihnen ein kalter Wind entgegen und blies ihnen Eiskristalle ins Gesicht. Wenigstens blies er auch den Geruch fort; schon nach hundert Metern war er verflogen.
Aber als sie die ersten Häuser erreichten, wurde Melanie plötzlich langsamer und hielt an. Sonja bremste vorsichtig und hielt ebenfalls an. »Was ist?«
»Da ist jemand.« Melanie schaute auf die dunkle Straße zurück, aber ein dichter Vorhang aus fallendem Schnee verbarg alles, was mehr als fünfzig Meter entfernt war. »Oder etwas.«
»Wo?« Sonja lauschte, aber außer dem leisen Rascheln und Rieseln des fallenden Schnees hörte sie nichts. Ihr Herz klopfte plötzlich hart und schnell. Konnte es sein? War es möglich, dass dort draußen in der Dunkelheit ein Pferd allein unterwegs war? Eins, das ihr folgte und nach ihr suchte, weil es gar kein gewöhnliches Pferd war, sondern –
Jäh drehte Melanie sich um. Ihre Augen waren weit und dunkel. »Lass uns abhauen«, sagte sie gepresst. »Schnell!«
Sonja erschrak. »Aber – könnte es nicht Nachtfrost
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