Der Schwur
gefährlich aussehendes Messer. Völlig verblüfft starrte sie auf Sonja hinunter, und Sonja wurde plötzlich klar, dass sie selber nicht weniger seltsam aussah: in ihrem alten blauen Pullover, der abgewetzten Reithose und den schwarzen Reitstiefeln, auf dem Rücken eines schwarzen Einhorns sitzend und mit einem goldenen Amulett um den Hals.
»Hallo«, sagte sie nervös, nahm das Amulett ab und hielt es dem fremden Mädchen an der Kette hin. »Ist das deins? Tut mir leid, ich habe es dahinten gefunden. Ich wusste nicht, wem es gehört.«
Das Mädchen starrte das Amulett an. Einen Moment lang sah sie sehr erschrocken aus, dann warf sie einen Blick auf Nachtfrost und runzelte die Stirn. Sie machte keine Anstalten, das Amulett zu nehmen. Vielleicht fand sie es zu umständlich, von ihrem drei Meter hohen Sitz herunterzuklettern. Jetzt erst erkannte Sonja, dass sie in einer Art Nest saß, das aus dem dichten Fell des Tieres geflochten war. Die Beine hatte sie durch zwei Löcher in dem Nest gesteckt. Es war wie ein natürlicher Sattel, der sicherste Sitz der Welt.
Sie fragte etwas. Und Sonja erlebte den nächsten Schock. Sie kannte keins der Worte, es war eine völlig fremde, weich klingende Sprache, aber trotzdem verstand sie, was das Mädchen fragte.
»Wer bist du?«
Sie ließ das Amulett sinken. Was sollte sie jetzt sagen? Würde das Mädchen sie überhaupt verstehen? »Ich heiße Sonja«, antwortete sie nervös. »Sonja Berger. Nachtfrost hat mich hergebracht. Ich weiß nicht genau, wie. Da war der Nebel, und eine Straße, und plötzlich waren wir hier. Ist das nicht dein Amulett? Ich hab’s dahinten gefunden, ganz nah am Abgrund, und –«
Das Mädchen hob die Hand und Sonja brach mitten im Satz ab. »Ich verstehe dich nicht«, sagte das Mädchen in der seltsamen fremden Sprache. »Aber wenn der Taithar dir erlaubt, auf seinem Rücken zu sitzen, bist du den Elarim willkommen. Mein Name ist Elri.«
»Taithar?«, wiederholte Sonja verwirrt. Dieses Wort blieb ohne Bedeutung für sie, obwohl sie das Gefühl hatte, es kennen zu müssen. »Ich dachte, er heißt Nachtfrost. Oder ist das euer Wort für Einhorn?«
Elri öffnete den Mund, aber gerade da schnaubte Nachtfrost ungeduldig und drehte sich ein wenig zur Seite, sodass sie die Striemen auf seinen Schultern sehen konnte. Bestürzt rief sie: »Du bist ja verletzt!«
»Am Bein auch«, sagte Sonja. »Kannst du –« Sie unterbrach sich, denn Elri zog die Beine aus ihrem Nest undsprang mit einem Satz aus drei Meter Höhe auf den Boden. Noch während sie sich aufrichtete, zog sie den Beutel von ihrem Gürtel ab und öffnete ihn. Hastig rutschte Sonja von Nachtfrosts Rücken und zeigte auf das blutige Unterhemd um sein Bein. »Ich wollte Wasser suchen, um es auszuwaschen.«
Elri warf ihr einen misstrauischen Blick zu, kümmerte sich aber nicht weiter um sie. Sie holte ein zusammengerolltes Pflanzenblatt aus ihrem Beutel, steckte es in den Mund und kaute darauf herum, während sie den blutigen Verband vorsichtig löste. Ein Zittern lief über Nachtfrosts Fell, aber er senkte den Kopf und blieb still stehen. Sonja stand neben ihm, streichelte seinen Hals und fühlte sich hilflos.
Elri holte ein zweites Blatt heraus, wischte damit vorsichtig das Blut weg und schaute sich die Verletzung genau an. Dann spuckte sie die zerkaute grüne Masse des Blattes in ihre Hand. »Das war ein Messer«, sagte sie, immer noch in dieser weichen, fremden Sprache. »Ein glatter Schnitt, aber von unten. Seltsam. Wer hat das getan?« Aber sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern zog ihr eigenes Messer und hielt es Sonja hin. »Schneide damit eine lange Strähne vom Fell des Birjaks ab.«
»Wie bitte?«
»Der Birjak. Da drüben!« Sie machte eine ungeduldige Bewegung zu dem Riesenbüffel hin, der zu grasen begonnen hatte.
»Hilfe«, dachte Sonja verzweifelt, als sie das Messer nahm und sich dem sechsbeinigen Monster näherte. Dieses Tier war so riesig, dass sie ihm knapp bis zum Bauch reichte. So breit wie ein Kleinbus und doppelt so hoch. Jedes Bein war so dick wie das eines Elefanten. Vielleicht sollte siesich einfach vorstellen, es wäre ein Elefant. Ein sechsbeiniger Elefant ohne Rüssel, mit zwei langen ... entsetzlich langen ... spitzen Hörnern und dem Fell eines Mammuts. Überhaupt nicht gefährlich.
Der Birjak hörte auf zu grasen und wandte ihr leicht den Kopf zu. Sonja kreischte, ließ das Messer fallen, rannte zu Nachtfrost zurück und versteckte sich hinter ihm.
Elri
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