Der Schwur
Es baumelte jetzt an der Kette und schlug dem Pferd gegen die Schulter. Und dort, wo es das dunkle Fell berührte, verfärbten sich die Haare, verdrehten sich und verschmorten. Und Sonja begriff, was sie zu tun hatte.
Sie schob den rechten Arm nach vorne und riss das Amulett von ihrem Hals, und ohne hinzusehen, schob sie den Arm zurück und drückte dem Spürer das Amulett fest gegen die Brust.
Er stieß einen schrecklichen Schrei aus. Das Pferd scheute und diesmal bekam er es nicht unter Kontrolle. Es bockte heftig und warf sie beide ab. Beim Sturz schürfte Sonja sich beide Knie auf, aber darauf achtete sie gar nicht. Nur weg! Sie umklammerte das Amulett, rappelte sich auf und rannte den Weg zurück, den sie gekommen war. Hinter sich hörte sie das Gebrüll des Spürers, das voller Wut und Schmerz war. Er kam hinter ihr her! Sie stolperte über eineBaumwurzel, rappelte sich wieder auf und rannte weiter, aber sie hatte keine Ahnung, wo sie war und ob sie wirklich zu den Tesca zurücklief oder nicht.
»Nachtfrost!«, schrie sie. »Nachtfrost!«
Ein Wiehern antwortete ihr, dann hörte sie donnernden Hufschlag, und Nachtfrost jagte zwischen den Bäumen heraus und auf sie zu. Abrupt blieb sie stehen. Das war nicht das starke, sanfte Tier, das sie kannte. Es war eine Naturgewalt aus Licht und Dunkelheit, die Zähne gebleckt vor Wut, das Horn gleißend hell. Aber die Wut galt nicht ihr, sondern dem Monster hinter ihr. Nachtfrost jagte an ihr vorbei, und sie wirbelte herum – gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie der Spürer sich in Luft auflöste und wie Rauch verwehte.
Nachtfrost wieherte laut und zornig, wurde langsamer, fiel in Trab und blieb schließlich stehen. Irgendwo in der Nähe entfernten sich die Hufschläge eines durchgehenden Pferdes. Nachtfrost wieherte noch einmal, drehte sich um und trabte zu Sonja zurück. Als er vor ihr stehen blieb, sah sie Schweiß und Blut auf seinem Fell – aber er schien nicht verletzt zu sein. Sie schlang die Arme um ihn und brach in Tränen aus, aber er stieß sie ungeduldig mit dem Maul an. Sie löste sich von ihm. »Was ist? Was ist mit Elri und Lorin? Und Veleria? Sind sie in Ordnung?«
Er schüttelte wild den Kopf und schnaubte. Sonja schluckte hart, aber dann biss sie sich auf die Lippen. Elri, Lorin und die Tesca waren ihretwegen angegriffen worden. Sie war es ihnen schuldig, zurückzukommen und ihnen zu helfen – wenn sie auch nicht wusste, was sie tun sollte.
»Bring mich zurück«, sagte sie und griff in die silberne Mähne.
Als sie sicher auf seinem Rücken saß, trabte Nachtfrostlos. Doch er hielt nicht auf das Lager der Tesca zu. Stattdessen trabte er mit leichten, fast schwerelosen Schritten in den Nebel hinein, der zwischen den Bäumen aufstieg. Entsetzt begriff Sonja, was er vorhatte.
»Nein! Nachtfrost, bleib stehen! Ich kann nicht zurück! Ich muss wissen, wie es ihnen geht, und – bleib stehen!«
Er trabte jetzt schneller, als jedes sterbliche Pferd galoppieren konnte. Einen wahnwitzigen Augenblick lang überlegte Sonja, ob sie sich einfach fallen lassen sollte, aber ein warnendes Schnauben hielt sie davon ab. Nachtfrost fiel in Galopp. Der Nebel wurde dichter und verhüllte die Bäume, bis nichts mehr zu sehen war außer waberndem Grau. Auch die Geräusche des Waldes verstummten, und außer dem harten, dumpfen Schlag der Hufe war nichts mehr zu hören. Eine Sekunde lang klang der Boden hohl, als liefe Nachtfrost über Stein, und dann wurde er langsamer, trabte und blieb stehen. Sein Fell war struppig und grau, die Mähne fahl, das Horn verschwunden. Und Sonja trug wieder ihren alten blauen Pullover, die dunkle Reithose und ihre dreckverschmierten Reitstiefel. Der Nebel löste sich auf, und das Erste, was sie hörte, war das Motorengeräusch eines Autos, das auf der Straße näher kam, die sie gerade überquert hatten. Sie drehte sich um. Es war ein silberner Mercedes, der einen Pferdetransporter zog. Er brauste heran, war schon vorbei – und bremste plötzlich. Langsam setzte er zurück, bis er auf gleicher Höhe mit Sonja und Nachtfrost war, dann hielt er an. Eine blonde Dame in einem weißen Kostüm stieg aus und stakste durch das Feld auf sie zu. Dass sie dabei ihre hochhackigen Schuhe ruinierte, schien ihr ganz egal zu sein.
»Nero«, rief sie. »Nero!«
Auch Nachtfrost benahm sich plötzlich sehr merkwürdig.Er blieb stocksteif stehen, und ein Zittern lief durch seinen Körper. Erschrocken streichelte Sonja seinen Hals. »Was ist denn? Was
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