Der Schwur
zurück in ihr Zimmer. Melanie hatte sich inzwischen mit einem Lineal und einem Stift bewaffnet, und Darian blätterte fasziniert im Atlas herum, legte ihn aber rasch zur Seite, als Sonja hereinkam.
Sie breiteten die Karte auf dem Boden aus. »So«, sagte Melanie, »die Richtung war irgendwie Südwesten …«
»Genau da.« Sonja zeigte zur Zimmerecke. »Gib mir mal das Lineal.« Sie legte es auf die Karte, schob es ein wenig herum und nickte schließlich. »So.«
»Also schön, dann ziehe ich mal eine Linie …« Melanie tat es, und sie beugten sich so dicht über die Karte, dass sie mit den Köpfen zusammenstießen.
»Und?«, fragte Darian. »Gibt es da etwas?«
»Jede Menge. Wie weit reicht denn die Magie?«
»Ich bin nicht sicher. In Parva würde ich sagen, etwa eine Tagesreise weit, aber hier ist es bestimmt weniger.«
»Wie weit ist denn eine Tagesreise? Zu Fuß oder mit dem Pferd? Und wenn man ein Auto hat?«
Nach einiger mühsamer Rechnerei und Raterei einigten sie sich auf eine Entfernung von etwa dreißig Kilometern. Darian beteiligte sich nicht an der Diskussion, hörte aber aufmerksam zu. Endlich war es so weit und Sonja und Melanie suchten die Linie ab. Sie fanden einige kleinere und größere Orte, zwei Autobahnen und –
»Da!«, rief Melanie. »Das muss es sein!«
Sonjas Herz schlug plötzlich bis zum Hals. »Was? Wo?«
Aufgeregt beugten sie sich über die Karte. Und da stand es, ganz klein und unauffällig: Gut Stettenbach.
»Ich fasse es nicht!«, sagte Melanie. »Es heißt sogar wie diese Frau! Wir haben sie!«
Sonja nickte; ihr Hals war wie zugeschnürt. Mit zitternden Fingern griff sie nach dem Lineal und maß nach. »Zehn bis zwölf Kilometer. Das schaffen wir mit den Rädern!«
»Muss das sein?«, sagte Darian. »Lasst uns lieber reiten!«
Verblüfft schauten sie ihn an. »Worauf denn? Wir haben keine Pferde!«
»Dann kauft ihr eben welche. Es müssen ja keine guten sein – einfache Bauerngäule werden genügen, auch wenn sie lächerlich aussehen. Wir ziehen ja nicht in die Schlacht.«
Das war einer jener Momente, in denen Sonja und Melanie einen stillen Blick tauschten und jede auch ohne Worte genau wusste, was die andere dachte. Sonja sagte: »Wir haben kein Geld, um Pferde zu kaufen.«
»Dann vielleicht Antilopen?« Er sah ihre Gesichter und seufzte. »Na schön. Kein guter Vorschlag. Dann muss ich eben lernen, auf so einem abscheulichen Metallgestell zu reiten. Jetzt sofort? Oder erst morgen?«
Sie schauten einander an. Sonja dachte an das Bild zurück, das sie gesehen hatte. Nachtfrost allein auf einer Wiese,rastlos und unruhig, und sie konnte geradezu hören, wie er nach ihr rief …
»Wir warten, bis meine Eltern schlafen«, sagte sie bestimmt. »Dann fahren wir los. Ich stelle mir den Wecker.«
»Und wo bleibe ich so lange?«, erkundigte sich Darian. »Unter deinem Bett?«
»Nein, meine Eltern haben erlaubt, dass du hier übernachten kannst. Du schläfst drüben bei Philipp, du darfst nur die Flugzeuge nicht anfassen.«
»Die was?«
»Ich zeige es dir.« Sie führte Darian in Philipps Zimmer und schaute mit einem gewissen Besitzerstolz zu, wie er sich fast ehrfürchtig umsah. Überall hingen und standen Philipps selbst gebaute Flugzeuge.
»Und die fliegen wirklich?«
»Nur ein paar. Mit einer Fernsteuerung. Aber das kann Philipp dir erklären, wenn er von seinem Lehrgang zurückkommt.« Sie gähnte jetzt auch. »Ich zeige dir noch das Bad.«
Ein Anflug von Panik zeigte sich auf Darians Gesicht, als er das Bad sah. »Werde ich hier auch mit Gewalt in die Wanne gesteckt und abgeschrubbt, wie in diesem Heilerhaus?«
Sonja kicherte. »Nein, das machst du alles ganz allein. Bis nachher!«
Sie bauten Melanies Gästebett auf und legten sich hin. Melanie schlief schon bald ein, aber Sonja blieb wach und dachte nach. Nachtfrost war nicht gefangen, und es ging ihm gut. Aber warum sprang er nicht einfach über diesen Bretterzaun und kam zu ihr zurück? Den Weg würde er bestimmt finden, schließlich war er kein gewöhnlichesPferd. Wollte er dort bleiben, wo diese Frau von Stetten ihn hingebracht hatte? Und wollte er, dass Sonja auch dorthin kam? Wartete er dort auf sie? Aber warum? Und das brachte sie wieder zu der Frage zurück, wer diese Frau war und warum sie sie »Yeriye« genannt hatte …
Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Irgendwann sah sie Nachtfrost in seiner wirklichen Gestalt wieder vor sich. Er senkte den schwarzen Kopf zu ihr hinab, schnaubte ihr
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