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Der Scout. Kleinere Reiseerzählungen, Aufsätze und Kompositionen

Der Scout. Kleinere Reiseerzählungen, Aufsätze und Kompositionen

Titel: Der Scout. Kleinere Reiseerzählungen, Aufsätze und Kompositionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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hielten wir an. Ich riß ein Blatt aus dem Notizbuche, schrieb die nothwendigen Notizen mit dem Stifte darauf und stach es dann mittels eines zugespitzten Hölzchens in die Rinde eines Baumes so ein, daß es einem Jeden, der von Süden her kam, in die Augen fallen mußte. Dann schlugen wir mehr nach rechts hin die Richtung nach Südwest ein.
    Zu Mittag gingen wir über den Green-Fork, aber jedenfalls sehr weit entfernt von der Stelle, an welcher die einzelnen Trupps der Ogellallah zusammentreffen wollten. Diese mußten alle offenen Stellen vermeiden und sich also auf Umwegen im Urwalde halten; wir aber konnten die möglichst gerade Richtung einschlagen und ließen unsern Pferden nicht eher Ruhe, als bis die Sonne sich zur Rüste zu neigen begann.
    Seit heute Morgen hatten wir unbedingt weit über vierzig englische Meilen zurückgelegt, und es war zu verwundern, daß der alte Victory immer gleichen Schritt hielt. Wir ritten zwischen zwei eng zusammentretenden Höhen hin und standen im Begriffe, uns einen Ort zu suchen, welcher zum Lagerplatze geeignet war. Da traten diese Höhen plötzlich auseinander, und wir befanden uns am Seiteneingange eines größeren Thalkessels, dessen Mitte ein kleiner See einnahm. Dieser Letztere wurde von einem Flüßchen gespeist, welches von Ost herüberkam und, nachdem es den See verlassen hatte, sich nach Westen hin einen Ausgang aus dem Kessel brach.
    Bei dem Anblicke dieses Thalkessels hielten wir überrascht unsere Pferde an. Diese Ueberraschung galt jedoch nicht dem Thale selbst, sondern etwas Anderem. Die uns gegenüberliegende Höhe war nämlich entwaldet und bestand aus Feldern, während im Thale Pferde, Rinder, Schafe und Ziegen weideten. Am Fuße der Höhe lagen fünf große Blockhäuser mit Nebenhütten, unsern deutschen Bauernhöfen ähnlich, und ganz oben auf der höchsten Spitze stand ein kleines Kapellchen, über welches sich ein mächtiges Kreuz mit dem aus Holz geschnitzten Bilde des Erlösers erhob.
    Neben diesem Kapellchen bemerkten wir mehrere Personen, welche uns aber nicht zu sehen schienen. Sie blickten gegen Westen, wo der Sonnenball sich immer tiefer senkte, und als er das Wasser des Flüßchens, welches er mit den herrlichsten Tinten färbte, erreicht zu haben schien, erklang von oben herab der silberne Ton eines Glöckchens.
    Hier, mitten im wilden Westen, im tiefen Urwalde das Bild des Gekreuzigten! Mitten zwischen den Kriegspfaden der Indianer eine Kapelle! Ich hätte vom Pferde steigen, niederknieen und vor Entzücken weinen mögen! Ich nahm den Hut herunter und betete, wurde aber von dem Indianer unterbrochen.
    »
Ti ti
– was ist das?« frug er.
    »Ein Settlement 6 natürlich,« antwortete Walker sehr weise.
    »Uff! Winnetou sieht die Niederlassung; aber welcher Klang ist das?«
    »Das ist die Vesperglocke. Sie läutet das Ave Maria.«
    »Uff!« meinte der Apache erstaunt. »Was ist Vesperglocke? Was ist Ave Maria?«
    »Warten!« sagte Fred, welcher sah, daß ich die Hände gefaltet hatte.
    Als der letzte Schlag des Glöckleins verklungen war, ertönte plötzlich ein vierstimmiger Gesang vom Berge herab. Ich horchte empor, erstaunt ob des Gesanges an und für sich, noch erstaunter aber über die Worte dieses Gesanges:
     
    »Es will das Licht des Tages scheiden;
    Nun bricht die stille Nacht herein.
    Ach, könnte doch des Herzens Leiden
    So, wie der Tag vergangen sein!
    Ich leg mein Flehen Dir zu Füßen,
    O trags empor zu Gottes Thron,
    Und laß, Madonna, laß Dich grüßen
    Mit des Gebetes frommem Ton:
    Ave, ave Maria!«
     
    Was war denn das? Das war ja mein eigenes Gedicht, mein Ave Maria! Wie kam dies hierher in die Wildnisse des Felsengebirges? Ich war zunächst ganz perplex; dann aber, als die einfachen, ergreifenden Harmonieen wie ein unsichtbarer Himmelsstrom vom Berge herab über das Thal hinströmten, da überlief es mich mit unwiderstehlicher Gewalt; das Herz schien sich mir ins Unendliche ausdehnen zu wollen, und es flossen mir die Thränen in großen Tropfen von den Wangen herab.
    In Chicago und vor einer Reihe von Jahren war es gewesen, daß mich ein Freund, welcher Musikdirector war, um den Text zu einem dreistrophigen Ave Maria gebeten hatte. Ich war natürlich sofort bereit gewesen, diesen Wunsch zu erfüllen, und als ich später in einem Concerte seine Composition singen hörte, fühlte ich, daß er ein Meisterstück geliefert hatte. Die Zuhörerschaft belohnte den Vortrag mit einem solchen Applaus, daß das Ave Maria noch zweimal da

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