Der Scout. Kleinere Reiseerzählungen, Aufsätze und Kompositionen
folgend, in welcher ich ihn hatte verschwinden sehen, näherte ich mich dem See. Eine etwas erhöhte Felsenplatte ragte über die dunklen Wasser hinein, und auf ihr sah ich die Gestalt des Gesuchten. Er saß hart am Rande, bewegungslos wie eine Statue. Mit leisem Schritte näherte ich mich ihm und ließ mich neben ihm nieder, wo ich im lautlosen Schweigen verharrte.
Es verging eine lange, lange Zeit, ohne daß er sich regte; endlich aber erhob er langsam den Arm, deutete auf das Wasser und sagte wie unter einem tiefen, sein ganzes Nachdenken in Anspruch nehmenden Gedanken:
»
Ti pa-apu shi itchi
– dieser See ist wie mein Herz.«
Ich antwortete nicht. Er fiel wieder in sein Schweigen zurück, und erst nach einer sehr langen Pause:
»
Ntch-kha Manitou nsho; shi aguan t’enese
– der große Geist ist gut; ich liebe ihn!«
Ich wußte, daß ich mit einer Antwort nur die Entwickelung seiner Gedanken und Gefühle stören würde; darum schwieg ich auch jetzt. In Folge dessen fuhr er bald fort:
»Mein Bruder Schar-lih ist ein großer Krieger und ein weiser Mann im Rathe; meine Seele ist wie die seinige; aber ich werde ihn nicht sehen, wenn ich einst in die ewigen Jagdgründe gelange!«
Dieser Gedanke stimmte ihn traurig; er war mir ein neuer Beweis, wie sehr lieb mich der Apache hatte; aber mit gutem Grunde entgegnete ich jetzt:
»Mein Bruder Winnetou besitzt mein ganzes Herz; seine Seele lebt in meinen Thaten; aber ich werde ihn nicht erblicken, wenn ich einst in den Himmel der Seligen gelange.«
»Wo ist der Himmel meines Bruders?« fragte er.
»Wo sind die Jagdgründe meines Freundes?« antwortete ich.
»Manitou besitzt die ganze Welt und alle Sterne!« erklärte er.
»Warum gibt der große Manitou seinen rothen Söhnen einen so kleinen Theil der Welt und seinen weißen Kindern Alles? Was sind die Jagdgründe der Indianer gegen die unendliche Herrlichkeit, in welcher die Seligen der Weißen wohnen werden? Hat Manitou die Rothen weniger lieb? O nein! Meine rothen Brüder glauben an eine große, fürchterliche Lüge. Der Glaube der weißen Männer sagt: ›Der gute Manitou ist der Vater über alle seine Kinder im Himmel und auf Erden.‹ Der Glaube der rothen Männer aber sagt: ›Manitou ist nur der Herr der Rothen; er gebietet, die Weißen alle zu tödten.‹ Mein Bruder Winnetou ist gerecht und weise; er denke nach! Ist der Manitou der Rothen auch der Manitou der Weißen? Warum betrügt er dann seine rothen Söhne? Warum läßt er sie von der Erde verschwinden und erlaubt den Weißen, zu Millionen anzuwachsen und die Erde zu beherrschen? Oder ist der Manitou der Rothen ein Anderer als der Manitou der Weißen? Dann ist der Manitou der Weißen mächtiger und gütiger als der Manitou der Rothen! Der Manitou der Bleichgesichter gibt ihnen die ganze Erde mit tausend Freuden und Wonnen, und dann läßt er sie herrschen über die Seligkeiten aller Himmel von Ewigkeit zu Ewigkeit. Der Manitou der Rothen aber gibt den Seinigen nur die wilde Savanna und die öden Berge, die Thiere des Waldes sammt einem immerwährenden Tödten und Morden, und sodann verheißt er ihnen nach dem Tode die finsteren Jagdgründe, in denen der Mord von Neuem beginnt. Die rothen Krieger glauben ihren Medizinmännern, welche sagen, daß in den ewigen Jagdgründen die Indianer alle Seelen der Weißen tödten werden. Wenn nun mein Bruder in diesen blutigen Gründen einst seinem Freunde Schar-lih begegnete, würde er ihn tödten?«
»Uff!« rief da der Apache laut und eifrig. »Winnetou würde die Seele seines guten Bruders vertheidigen gegen alle rothen Männer. Howgh!«
»So überlege mein Bruder, ob die Medizinmänner nicht eine Lüge sagen!«
Er schwieg nachdenklich, und ich hütete mich sehr, die Wirkung meiner Worte durch weitere Bemerkungen zu beeinträchtigen.
Wir kannten uns seit vielen Jahren; ich war mit ihm viele Monate lang in der Wildniß umhergeschweift. Wir hatten Leid und Freud redlich mit einander getheilt und uns in jeder Gefahr und Noth mit todesmuthiger Aufopferung beigestanden. Aber niemals war zwischen uns ein Wort über den Glauben gesprochen worden; niemals hatte ich auch nur mit einer Silbe versucht, zerstörend in seine religiösen Anschauungen einzudringen. Ich wußte, daß er grad dieses mir sehr hoch anrechnete, und darum mußten meine jetzigen Vorstellungen von doppelter Wirkung auf ihn sein.
Nach einer Weile fragte er:
»Warum sind nicht alle weißen Männer wie mein Bruder Schar-lih? Wären sie so wie er,
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