Der Seele schwarzer Grund: Kriminalroman (Knaur HC) (German Edition)
Keine Laken. Nichts Scharfes. Nichts zum Schlucken. Das Fenster befand sich ganz oben unter der Decke. Auch davor Gitterstäbe. Sie konnte nicht erkennen, ob es Tag oder Nacht war.
Sie dachte viel an Kyra. Wie sie zusammen Pfannkuchen machten. Brötchen. Aus einer alten Gasrechnung eine ganze Reihe von Papierpuppen ausschnitten. Sie hatte Kyra nie angerührt. Kyra befand sich außerhalb der Spirale. Sie hatte geplant, mit Kyra ans Meer zu fahren. Ein Wohnwagen. Sie hätten viel Spaß gehabt, und Kyras Mutter wäre froh gewesen, sie eine Woche lang los zu sein.
Sie dachte viel an Kyra.
Sonst versuchte sie, an nichts zu denken. Sie dachte sich Wortspiele aus. Probierte es mit Kopfrechnen. Darin war sie gut. Ihr Gehirn funktionierte bestens. War richtig verdrahtet, hatte ein Lehrer mal gesagt. Sie buchstabierte rückwärts, sehr schnell.
Aber wenn sie schlief, verlor sie die Kontrolle und war wieder auf dem Felsvorsprung, und das Meer wartete auf sie, klatschte an der Klippe hoch und versuchte sie zu kriegen, ein Tiger hinter den Gitterstäben seines Käfigs. Es war grün, wie Galle. Der Polizist auf dem Vorsprung wollte sie ins Wasser stoßen, und in ihrem Traum kämpfte sie mit ihm, biss ihn in die Handgelenke, bis Blut kam, und schubste ihn trudelnd über den Rand in die Tiefe. Er hatte sie wütend gemacht, der verdammte, hochnäsige Blödmann.
Sie hatte das Mädchen nicht zurücklassen wollen. Das Mädchen war eine unerledigte Angelegenheit, und das konnte sie nicht ausstehen, es machte sie verrückt, wenn sie es unbeendet ließ, in der Luft hängend, nicht abgeschnitten. Es gefiel ihr, sie abzuschneiden, schnips, beendet. Ein sauberes Ende. Sie hatte das Gefühl, als würden sich Würmer in ihrem Bauch winden, wenn sie daran dachte, nicht beendet, nicht sauber, nicht abgeschnitten. Es war wie ein Jucken, an dem sie nicht kratzen konnte, eines in ihrem Inneren, an das sie nicht herankam, ein Jucken in ihrer Leber oder ihrem Bauch. Nichts konnte es aufhalten. Das war seine Schuld. Ihre. Männer.
Sie erwachte. Die Tür wurde aufgestoßen. Schlüssel.
Ein Mann.
Das Tablett wurde auf den Tisch geknallt. Würstchen, verschmiert mit orangefarbenen Bohnen. Ein Doughnut. Wasser.
Sie starrte den Mann an. Die Schlüssel.
Sie trat gegen das Tablett, und es krachte zu Boden, orangefarbene Bohnen und Wasser spritzten herum. Er fluchte.
Sie war zufrieden. Sie sprach nicht mit ihnen, mit keinem. Nannte ihren Namen, das war’s. Beantwortete keine Fragen, erzählte ihnen nicht, was sie dachte. Schwieg. Das konnte sie ewig durchhalten.
Gut, dachte sie, als sie aufgaben und sie allein ließen. Gutes Mädchen. Sie boxte sich mit der Faust in die andere Handfläche. Gut. Dadurch hörte das Würmerkrabbeln in ihrem Bauch auf. Für eine Weile.
Sie wünschte, sie hätte das Wasser nicht umgestoßen. Sie war durstig. Es war trocken hier, trockene, abgestandene Luft.
Sie begann, gegen die Bank zu treten, fest. Das rief ihr das Bild des Fußballers ins Gedächtnis. Er hatte getreten. Eine Woche lang hatte sie einen Bluterguss auf dem Oberschenkel gehabt, lila und schwefelgelb, wo er sie getreten hatte. Sie hatte sich sogar einen Moment lang gefragt, ob er derjenige sein würde, der sie besiegte, aber das hatte er nicht. Eigentlich hatte sie es gewusst. Keiner konnte das je schaffen. Am Ende war sie immer die Stärkere.
»Feste, Ed«, hatte Dad gesagt, »so ist’s richtig. Mach weiter, fest. Versuch mir wehzutun.«
Das hatte sie nie getan. Er hatte es ihr beigebracht. Bevor er tot war.
Das war alles, woran sie sich erinnern konnte.
»Feste, Ed. Mach schon, schlag zu. So ist’s richtig.«
Es war genug. Sie trat weiter, bis sie kamen, das Gitter aufknallte, die Schlüssel.
Die Frau diesmal.
»Hör auf, Sleightholme, lass das. Was willst du?«
»Wasser.«
»Daran hättest du vorher denken sollen.«
Aber das Wasser kam. Sie wagten es nicht, sie ohne Wasser zu lassen. Sie trank die Hälfte und schüttete der Frau den Rest ins Gesicht.
Eine Stunde später öffnete sich die Tür erneut, und sie musste hinaus, den schmalen Flur entlang, durch die Schwingtüren, in einen anderen Flur. In einen Raum.
Sie kannte diese Räume inzwischen. Keine Fenster. Schmucklos. Tisch. Stuhl auf der einen Seite, zwei Stühle auf der anderen. Stromanschluss für den Kassettenrekorder. Das war’s. Verdammte Folterkammern.
Sie schlurfte hinter ihnen her, den Blick gesenkt. Sie schoben sie zum Stuhl und drückten sie darauf.
»Ist ja gut,
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