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Der Seele schwarzer Grund: Kriminalroman (Knaur HC) (German Edition)

Der Seele schwarzer Grund: Kriminalroman (Knaur HC) (German Edition)

Titel: Der Seele schwarzer Grund: Kriminalroman (Knaur HC) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
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mehr. Die hier war eine Frau. Jung. Zu jung. Wie konnte sie so jung sein? Kurzes, dunkles, glänzendes Haar. Designerbrille. Ovales Gestell. Blaues T-Shirt. Dunkelblauer Jeansrock. Flache, hellblaue Schuhe. Ehering. Ein weiterer Ring mit einer geflochtenen Verzierung und einem Diamantsplitter, der das Licht auffing. Halskette mit großen Perlen. Lächelte. Sah ihr direkt ins Gesicht. Und lächelte.
    Sag nichts. Du sagst nichts, nicht zur Polizei, nicht zu den Gefängniswärtern, nicht zu der Psychotante. Nichts.
    »Warum weinen Menschen überhaupt?«
    Sie schien es wirklich wissen zu wollen. Ernsthaft zu fragen. Warum weinen Menschen?
    Ed dachte darüber nach. Warum tun sie das? Dein Hund stirbt. Deine Katze wird überfahren. Du klemmst dir den Finger in der Autotür. Sie zuckte zusammen, erinnerte sich an den Schmerz, bei dem ihr schwummrig und übel geworden war.
    »Was ist? Etwas, an das Sie sich erinnern?«
    »Ja, als ich mir den Finger in der Autotür geklemmt habe. Verdammte Scheiße.«
    »O ja, das ist mir auch mal passiert. Tut eklig weh. Schlimmer als Wehen.«
    »Da kenn ich mich nicht aus.«
    »Das, und wenn einem der Hockeyschläger auf die Nase knallt.«
    »Aua …«
    »Wie mir.«
    Ed stellte es sich vor. Ihre Augen wurden feucht.
    »Das ist also das eine.«
    »Was?«
    »Ein Grund zum Weinen. Schmerz.«
    Scheiße. Sie unterhielten sich wie normale Menschen, wie Menschen reden, und sie hatte was gesagt.
    Sag nichts.
    Auf dem Fensterbrett standen zwei Pflanzen, die vernachlässigt aussahen. Staubig. Die unteren Blätter waren gelb, und niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie abzuzupfen. Eine der Pflanzen musste zurückgeschnitten werden. So etwas konnte sie nicht ausstehen. Warum keine Plastikpflanzen, wenn man keine Lust hatte, sich um echte zu kümmern?
    Die Handtasche der Seelenklempnerin stand auf dem Boden, neben einem schlichten schwarzen Aktenkoffer. Vorne auf der Handtasche war ein Foto. Scarlett und Rhett aus dem Film. Den hatte sie sich immer wieder angeschaut. Scarlett trug eine Kette aus aufgeklebten Glitzersteinen, und auf Rhetts Hemdbrust waren ebenfalls Glitzersteine verstreut. Es wollte Ed einfach nicht in den Kopf, wie eine Psychotante so eine Handtasche haben konnte. Ed musste sie ständig wieder anschauen. Scarlett und Rhett.
    Ed benutzte keine Handtaschen, sie benutzte ihre Hosen- oder Jackentaschen und Beutel, wenn sie etwas Größeres zu tragen hatte.
    »Ich glaube, Sie haben geweint, weil Sie sich an etwas erinnert haben.«
    »Nein.«
    »Na gut.«
    Ed wartete. Die Psychotante würde jetzt ihre Liste durchgehen. Sie haben geweint, weil Sie sich an etwas aus Ihrer Kindheit erinnert haben. An Ihre Mutter. Oder Ihren Dad. An jemand, der Sie geschlagen hat, jemand, der Sie angeschrien hat, jemand, der Sie in einen dunklen Keller geschubst und die Tür abgeschlossen hat, jemand, der Ihnen gesagt hat, dass Sie stinken. Oder wegen etwas anderem.
    Sie wartete.
    Doch Dr. Gorley saß schweigend da, schaute Ed an. Dann wieder auf ihren Notizblock. Dann zurück zu Ed, aber nicht in Eile, nicht gereizt. Gar nichts. Nur geduldig. Entspannt. Wartend.
    Sag nichts.
    Sie wusste, warum sie geweint hatte, und war sauwütend auf sich, doch sie hatte es nicht verhindern können. Die Tränen waren einfach gelaufen. Der Polizist mit dem blonden Haar hatte sie angeschaut, seine Fragen gestellt, geschaut, dies gesagt, das gesagt. Und dann war das Bild in ihrem Kopf aufgetaucht und damit die sofortige Erkenntnis, was geschehen würde. Und was nie geschehen würde.
    Sie hatte sich im Wohnwagen mit Kyra gesehen. Sie waren auf die Stufen getreten, hatten die Tür sorgfältig hinter sich abgeschlossen und waren über den Platz bis dorthin gegangen, wo man das Meer sehen konnte. Auf den Strand zu, wo sie den Tag verbringen würden. Kyra trug einen Eimer und eine Schaufel, Ed einen Ball und den Beutel mit ihrem Picknick darin. Unten würden sie sich dann etwas zu trinken und Eis kaufen. Es war warm. Sie hörten die Stimmen anderer Kinder, Leute, die am Strand kreischten und riefen und lachten. Kyra hüpfte neben ihr, hielt Eds Hand, schaute hin und wieder aufgeregt zu ihr hoch. Diese Woche, dieser Urlaub, würde der allerbeste werden, der beste für Kyra, der beste für Ed. Er bildete eine kleine, durchsichtige Blase in Eds Kopf, und die Blase war vollkommen getrennt von allem anderen. Allem.
    Und jetzt war die Blase ohne Vorwarnung zerplatzt. Ed hatte sich im Vernehmungsraum umgeschaut. Die Polizisten angeschaut.

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