Der Seele weißes Blut
offenbar nicht nur im Präsidium hinterher. Und wenn er das bei ihr tat, dann vermutlich auch bei anderen Kollegen.
»Du willst doch wohl nicht etwa andeuten, dass Mörike es auf unsere Chefin abgesehen hat?«, fragte Meier. »Erstens ist es total hirnrissig, und zweitens passt sie wohl kaum in sein Beuteschema. Die Louis ist definitiv alles andere als wehrlos.«
»Wir haben bisher nur Vermutungen darüber angestellt, nach welchen Kriterien der Täter seine Opfer aussucht«, gab Chris zu bedenken. »Wir wissen also gar nicht genau, wer in sein Beuteschema passt.« Wieder dachte er an das, was Köster ihm vor einigen Tagen auf dem Flur zugeraunt hatte. Dass Lydia zerbrechlicher sei, als sie wirke. Zu schade, dass Köster jetzt nicht hier war. Er kannte Lydia am besten. »Ich bin jedenfalls der Ansicht, dass wir dringend ein paar Antworten brauchen. Und zwar heute noch. Klaus, würdest du mit deiner Kollegin zu Mörikes Schwester fahren? Wenn sein Vater tatsächlich auf mysteriöse Weise verschwunden ist, dann ist sie diejenige, die am ehesten etwas darüber weiß. Erik, Reinhold und Thomas, ihr fahrt bitte zu Mörikes Wohnung und seht euch da um, ich fahre mit Ruth zu Lydia nach Hause. Alle einverstanden?«
Grimmiges Nicken. Alle schienen ihn als kommissarischen Leiter der Moko zu akzeptieren, was er trotz der Angst, die ihm im Nacken saß, mehr genoss, als er erwartet hatte. Das war der Chris Salomon, den er morgens im Spiegel sehen wollte, der Kripobeamte Chris Salomon, der souverän ein Team leitete und auch in brenzligen Situationen den Überblick und die Nerven behielt. Vielleicht hatte der Arzt, der ihm geraten hatte, wieder zu arbeiten, doch recht gehabt, als er gesagt hatte, dass anderen zu helfen das Beste sei, um die eigene verletzte Seele zu heilen.
»Was machen wir, wenn Mörike nicht zu Hause ist?«, fragte Schmiedel.
»Gefahr im Verzug«, antwortete Chris. Mehr brauchte er nicht zu erklären. Sie hatten keine Zeit, auf einen Durchsuchungsbeschluss zu warten. Wenn Mörike tatsächlich der Killer war und Lydia bei sich hatte, zählte jede Minute. »Ach, und noch etwas«, ergänzte er. »Wir sollten den Polizeifunk meiden, damit Mörike nicht gewarnt wird. Wir kommunizieren per Handy, okay?«
Sie verließen das Büro, Chris war der Letzte und zog die Tür zu. Wiechert organisierte einen Passat aus dem Fuhrpark und steuerte den Wagen vom Gelände des Präsidiums. Chris starrte wortlos aus dem Fenster, während sie in Richtung Bilker Allee rasten. Er wünschte, dass er sich irrte, doch je länger er darüber nachdachte, desto mehr Sinn ergab sein Verdacht.
Ein einsamer Hundebesitzer war ihnen auf dem dämmrigen Weg entgegengekommen und hastig an ihnen vorbeigeeilt. Ansonsten schien der Wald, über dem bereits ein herbstlich gelber Schleier lag, menschenleer. Es war still, nur das Rascheln der Nachttiere und das leise Seufzen der Bäume waren zu hören. Der Verkehrslärm der Stadt war nicht mehr als ein entferntes dumpfes Rauschen. Hin und wieder ertönte ein leises Dröhnen über ihnen, schwoll an und verstummte wieder. Dieser Teil der Stadt lag offenbar in der Einflugschneise des Flughafens, auch wenn der noch etliche Kilometer entfernt war und die Maschinen in großer Höhe über sie hinwegflogen.
Sie hatten den Wagen in einer Seitenstraße von Unterbach abgestellt und waren von dort aus zu Fuß gegangen, damit Salomon den Toyota auf keinen Fall zufällig entdeckte. Der Weg, auf dem sie den Forst in südwestlicher Richtung durchquerten, wurde auf der linken Seite von einem schmalen Wassergraben gesäumt. Auch tiefer im Wald waren Tümpel und Wasserläufe zu erkennen, die im Dämmerlicht geheimnisvoll schimmerten. Mörike, der sich unerwartet als Technik-Freak erwiesen hatte, hatte den Punkt, wo der Killer vermutlich zuschlagen würde, auf seinem Navigationsgerät markiert, und jetzt liefen sie auf die Stelle zu, auf die der kleine Pfeil auf dem Bildschirm zeigte.
Eben hatte Lydias Handy geklingelt. Sie hatte auf das Display geblickt und Salomons Nummer erkannt. Schnell hatte sie ihn weggedrückt und das Handy stumm geschaltet. Ein Gedanke war ihr gekommen. Die Fische in ihrer Wohnung. Womöglich sollte sie das nächste Opfer sein. Was würde er tun, wenn er sie nicht fand? Seinen Plan aufgeben? Nein, wenn er heute die nächste Frau töten wollte, dann würde er das tun. Und wenn er Lydia nicht zu fassen bekam, würde er sich ein anderes Opfer suchen. Er hatte schon einmal bewiesen, dass er in
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