Der Seele weißes Blut
dieser Hinsicht flexibel war.
»Halt, hier muss es sein.« Mörike war stehen geblieben und blickte sich um. Die Konturen des Waldes, Bäume, Sträucher und der Verlauf des Weges waren gut zu erkennen. Es war zwar inzwischen dunkel, aber der Stadthimmel leuchtete rötlich, und in einiger Entfernung blinkten von Vennhausen her schwache Lichter durch das Unterholz. Etwa zehn Meter vor ihnen bei einer Wegkreuzung erkannte Lydia einen hölzernen Unterstand. Er hatte keine Seitenwände, doch unter dem schützenden Dach befand sich eine Sitzgruppe, die aus einem Tisch und zwei Bänken bestand.
»Vielleicht sollten wir uns dort verstecken?«, schlug Mörike vor.
»Hm, ich weiß nicht.« Lydia drehte sich einmal im Kreis. Aus vier Richtungen führten Wege auf den Unterstand zu, eine Brücke verlief über den Graben. »Hier sind wir schon von weitem zu sehen. Das ist kein gutes Versteck.«
»Stimmt. Wie blöd von mir. Dann müssen wir irgendwo in der Nähe ins Unterholz kriechen.«
Lydia dachte nach. »Ich frage mich gerade, ob es Sinn macht, die Stelle zu suchen, wo er sie eingraben will. Er hat das Loch bestimmt schon vorbereitet.« Sie ließ ihren Blick über den mit altem Laub, Ästen und Brombeer-ranken bedeckten Boden schweifen.
Ein Jogger mit einer kleinen Lampe an seinem Stirnband passierte sie und verschwand über die Brücke in Richtung Unterbacher See.
»Ich finde, das ist zu riskant«, antwortete Mörike. »Salomon kann jederzeit hier auftauchen. Wenn er uns sieht, haut er ab, bevor wir ihn bemerken. Außerdem dürfte es verdammt schwierig sein, in der Dunkelheit etwas zu finden. Da brechen wir uns höchstens die Knöchel.«
Sie sah ihn an und zuckte mit den Schultern. »Vermutlich hast du recht. Also ab ins Versteck.«
Sie liefen auf ein Gestrüpp im Wald zu, nur wenige Meter von der Kreuzung entfernt. Es war eine Stechpalme mit glänzenden dunkelgrünen Blättern, die gut vor fremden Blicken schützten, aber mit spitzen Stacheln bewehrt waren. Lydia blieb unentschlossen stehen und überlegte, wie sie sich in das Gebüsch hineinzwängen sollte, ohne sich das Gesicht zu zerkratzen. Gerade wollte sie mit einem Seufzer die Zweige zur Seite biegen, als sie etwas Hartes an ihrer Schläfe spürte.
»Keine Bewegung! Und die Hände auf den Rücken!«
Sie erstarrte. In dem Augenblick, als die Handschellen klickten, fiel ihr ein, was ihr schon seit gestern im Hinterkopf herumspukte. Der Zettel. An ihrem Bildschirm im Büro klebten jede Menge Zettel mit wichtigen Notizen. Einer stammte von Mörike. Darauf hatte er Name und Anschrift einer Clara Mayer notiert, die mit Kristina Keller im Schauspielhaus gearbeitet hatte und vielleicht mehr darüber wusste, warum sie gekündigt hatte. Sie hatten die Frau bisher nicht erreicht. Ein Nachbar hatte ihnen erzählt, dass sie manchmal wochenlang bei ihrem Freund wohnte und sich nicht zu Hause blicken ließ. Leider wusste der Nachbar nicht, wie dieser Freund hieß. Inzwischen war die Befragung von Frau Mayer in den Hintergrund gerückt, da sie von Kerstin Förster wussten, dass Kristina Keller von einem Kollegen vergewaltigt worden war. Doch der Zettel hing immer noch an Lydias Bildschirm. Mörike hatte die Wörter in großen Druckbuchstaben notiert. Daran war nichts weiter auffällig, bis auf das ›Y‹, das er am linken oberen Ende mit einer auffälligen Schlaufe versehen hatte. Genau diese Schlaufe hatte das ›Y‹ auf dem Zettel gehabt, den Lydia an dem Abend in ihrer Wohnung gefunden hatte, als dort eingebrochen worden war.
Sie hatte Mörikes Zettel die ganze Zeit vor der Nase gehabt. Sie hätte es sehen müssen. Jetzt war es zu spät.
48
Die Frau, die ihnen öffnete, hatte ein freundliches Gesicht. Sie trug einen braunen Cordrock, Stiefel und eine weiße Bluse. Ihr kinnlanges, rotblondes Haar hatte sie hinter die Ohren geschoben. »Ja, bitte?«
»Kriminalhauptkommissar Klaus Halverstett. Das ist meine Kollegin Rita Schmitt. Wir müssen mit Ihnen sprechen.«
»Um diese Zeit?«
»Es ist sehr wichtig. Es geht um Ihren Bruder.«
»Sebastian? Ist ihm etwas passiert?« Erschrocken sah sie Halverstett an, der sich beeilte zu sagen: »Nein. Soviel ich weiß, geht es ihm gut. Können wir bitte herein-kommen?«
»Ja, sicher.« Die Frau wirkte verwirrt. »Mein Bruder ist ein Kollege von Ihnen«, erklärte sie, während sie durch einen langen Korridor voranging. »Aber das wissen Sie sicherlich. Sind Sie deswegen hier?«
»Nicht direkt.«
Sie betraten ein geräumiges
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