Der Seelenbrecher
Es ist die Wahrheit, obwohl der Name lügt.
»Hypnose«, flüsterte er die Lösung und rückte mit seinem Mund ganz dicht an ihr Ohr. Er musste zu ihr durchdringen, den Moment abpassen, in dem ihr Unterbewusstsein eine Schleuse öffnete, damit er den posthypnotischen Befehl wieder aufheben konnte, doch er hatte keine Ahnung, wie groß das Zeitfenster war, das ihm blieb. Hinter ihm ächzte etwas, womöglich der Fahrstuhl, vielleicht auch der Seelenbrecher, dessen unverständliches Gebrüll sich sowohl mit dem Krach des Kernspins wie mit den Hilfelauten hinter der Milchglasscheibe mischte. Caspar hörte all das nicht mehr. Er konzentrierte sich nur noch auf Sophia. Die Frau, mit der er in diesem Moment die Rollen getauscht hatte. Jetzt war er der Arzt und sie die Patientin, die aus ihrem seelischen Gefängnis, aus dem Todesschlaf, befreit werden musste.
Er strich ihr das Haar hinter das leicht abstehende Ohr, so wie sie es selbst immer getan hatte, berührte sanft ihren Nacken in der Hoffnung, eine positive Reaktion hervorzurufen, und wiederholte das Lösungswort: »Hypnose.«
Immer und immer wieder sprach er ihr es direkt ins Ohr, während der Krach um ihn stetig zunahm.
»Hypnose. Hypnose. Hypnose.«
Die Welt des Kellers um ihn herum war verschwunden. Er hörte es nicht: das Knarren, Klacken, Ächzen, Stöhnen, Wimmern und Klopfen. Metallisch, menschlich, knöchern und dumpf. Er hörte noch nicht einmal mehr seine eigenen Worte.
Hypnose. Hypnose. Hypnose.
Seine Lippen berührten ihr Ohrläppchen wie bei einem intimen Kuss, und dann, kurz vor der letzten Silbe, reagierte sie endlich.
Sie schlug die Augen auf.
Ein Tsunami aus Endorphinen flutete seine Blutgefäße, als er in ihre klaren, ausdrucksstarken Augen sah. Er hatte sein Ziel erreicht, er war zu ihr durchgedrungen, hatte sie nicht nur äußerlich, sondern auch von innen heraus berührt.
Caspar schossen die Tränen in die Augen. Er wollte sie an sich reißen, sie drücken, umarmen, küssen und nie wieder loslassen. Und dann, gleich als Nächstes, wollte er schreien.
Doch das gelang ihm nicht. Er öffnete den Mund, aber kein Laut wollte herausdringen, als Sophias Gesicht sich verzerrte.
Zu einem grauenhaften Lächeln.
»Du hast das Rätsel gelöst, Niclas«, sagte sie, stand mühelos aus dem Rollstuhl auf und rammte ihm eine Spritze in den Arm.
03.37 Uhr – Eine Minute vor der Angst
»Wo waren wir bei unserer letzten Behandlung stehengeblieben, bevor der blöde Hund anfing zu bellen?«, fragte Sophia mit sanfter Stimme und zog ein kleines Plastikfläschchen aus der Tasche ihres Kittels hervor.
»Ach ja, richtig, Liebling. Deine Augentropfen.« Er wollte sich wehren, den Kopf zur Seite drehen, aber was immer sie ihm gespritzt hatte, schien jeden dazu notwendigen Nervenstrang zu blockieren.
Zusätzlich stemmte sie beide Knie gegen seine Oberarme und saß rittlings auf seinem rumorenden Magen. Unter anderen Umständen hätte er ein doppelt so schweres Gewicht mühelos mit einer Hand abschütteln können, doch jetzt war er paralysiert, weitaus heftiger, als sie es ihm die ganze Zeit vorgespielt hatte.
Warum?
Es sah ihr in die Augen, hoffte, eine Erklärung darin zu finden, einen Ausdruck des Zögerns, doch das war ein Fehler, denn sie nutzte die Gelegenheit, um einen dicken Tropfen stark konzentriertes Scopolamin auf seiner Hornhaut zu plazieren.
Es brannte heftig, und er reagierte sofort auf das Alkaloid, mit dem Augenärzte normalerweise die Pupillen erweiterten, bevor sie einen Sehtest durchführten. Nachdem Sophia die Prozedur wiederholt und somit auch seine andere Pupille »weitgetropft« hatte, spürte er bereits die bekannten Nebenwirkungen des Extrakts dieses Nachtschattengewächses.
»Warum?«, stöhnte er, seltsam beruhigt. Die Tropfen lähmten den Parasympathikus, dämpften seinen ohnehin geschwächten Zustand und nahmen ihm den Brechreiz. Seine verkrampften Muskeln entspannten sich, und er fühlte sich auf einmal so unbeschwert wie seit langer Zeit nicht mehr, obwohl die Bedrohung direkt über ihm schwebte.
Sophia lächelte ihn an und strich sich die Haare hinter die Ohren.
»Marie«, sagte sie nur. Ein schlichter Name, doch er genügte, um ihm die entsetzliche Wahrheit begreiflich zu machen.
Das war es also. Richtig. Jetzt fiel es ihm ein . So heißt sie. Marie!
Der blondgelockte Engel, bei dessen Behandlung etwas schiefgelaufen war. Sein erster Kunstfehler. Aber Marie war nicht nur seine, sie war … »Unsere Tochter«, bestätigte Sophia
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