Der Seelenbrecher
ruhig.
Natürlich. Deshalb hatte er sich die ganze Zeit so zu ihr hingezogen gefühlt. Aus diesem Grund war Sophia ihm so vertraut gewesen. Weil er sie kannte. Doch das war schon lange her. Jahre.
»Du hast sie mir weggenommen.«
Nein, habe ich nicht , wollte er sagen. Du hast mich doch damals verlassen, als Marie drei Jahre alt war, und bist nach Berlin gezogen. Zu deinem neuen Freund. »Doch jetzt werde ich sie rächen.«
Ich werde kämpfen. Bald habe ich einen wichtigen Gerichtstermin. Drücken Sie mir die Daumen.
Das hatte sie also gemeint. Es war paradox.
Je stärker er dagegen ankämpfte, dass die Gifte sein vegetatives Nervensystem aushebelten, desto klarer erinnerte er sich an ihre gemeinsame, grauenhafte Vorgeschichte.
Acht Jahre lang hatte er Marie kaum gesehen. Bis der besorgte Anruf kam. Von Katja Adesi, ihrer Grundschullehrerin.
Deshalb war er nach Berlin gereist und hatte Marie zu sich geholt. Nach Hamburg. In seine Praxis.
»Es kann losgehen. Ihre Tochter ist jetzt so weit. Wir haben alles vorbereitet, Herr Dr. Haberland.«
Er hatte sie hypnotisiert. Ohne das Wissen von Sophia, weil er herausfinden wollte, ob seine Tochter womöglich missbraucht wurde.
Und jetzt richtete Sophia über ihn, weil Marie während dieser Hypnosesitzung einen Schlaganfall erlitten hatte. Seitdem war sie gelähmt und vegetierte in einem wachkomaartigen Zustand vor sich hin, aus dem sie nie wieder erwachen würde.
Gefangen in sich selbst. Wie in einem Todesschlaf. Wie die Opfer des Seelenbrechers.
Aber das war nicht möglich. Das Schlimmste, was bei einer fahrlässig durchgeführten Behandlung auftreten konnte, war ein Rapportverlust. Maries Schäden waren unmöglich eine Nebenwirkung seiner medizinischen Hypnose.
Die Krämpfe. Die unkontrollierten Bewegungen ihrer Gliedmaßen. Die auf ewig eingeschränkten Reflexe. Deswegen gab es keine Gitter vor den Fenstern. Niemand hatte seine Tochter gewaltsam verschleppt.
Ich habe Angst. Bist du denn schnell wieder zurück, Papi?
Das Gefängnis, aus dem er sie hatte befreien wollen, war Maries eigener Körper. Sie war lebendig in sich selbst begraben.
»Du irrst dich …«, versuchte er sich vergeblich zu artikulieren. Wie alle anderen Muskeln seines Körpers konnte er nun auch die Zunge nicht mehr bewegen. Trotzdem schien Sophia zu antworten. Sie sprach mit fester, monotoner Stimme auf ihn ein, erklärte ihm offenbar etwas, das er aus den Hintergrundgeräuschen nicht herausfiltern konnte, doch er ahnte, was sie ihm begreiflich machen wollte. Sie war jetzt seine Richterin. Sie hatte ihm den Prozess gemacht für eine Tat, an die er sich erst in dieser Sekunde erinnerte. Als Gerichtssaal hatte sie sich die Klinik ausgesucht, und die Hauptverhandlung hatte sie vor wenigen Stunden eröffnet, ohne dass ihm sein Platz auf der Anklagebank bewusst gewesen wäre. Jetzt musste nur noch das Urteil vollstreckt werden, hier in dem Vorraum zum Labor.
»Halt, bitte nicht. Du begehst einen großen Fehler«, wollte er sagen und musste gleichzeitig daran denken, wie dumm sie alle gewesen waren. Und wie blind. Das war es also. Die Lösung des Rätsels.
Alles war nur ein Schauspiel gewesen, eine grausige Scharade. Sophia hatte ihnen die ganze Zeit über einen Zerrspiegel der Angst vor Augen gehalten, in dem sich ihnen die schonungslose Wahrheit gezeigt hatte, deutlich und für jeden sichtbar, allerdings seitenverkehrt. Der Seelenbrecher war eine Frau, das Opfer ein Täter, ihre Beschützer die Gejagten. Und in ihrer Verblendung hatten sie den Einzigen, der Bescheid wusste und sie retten wollte, bis aufs Blut bekämpft: Bruck. Nicht er, sondern Sophia hatte Raßfeld ermordet und in die Pathologie verschleppt. Sie war es gewesen, die die Gruppe auseinandertreiben und ihr letztes Opfer isolieren wollte: ihn. Dazu hatte sie die Rätsel plaziert – in ihrer eigenen Hand, in Raßfelds Mund und in Sybilles Tüte.
Natürlich. Wir haben sie ja nie länger beobachtet. Ihr Anblick war einfach zu schmerzhaft. Und wieso sollten wir auch?
Die ersten Zettel hatte sie vermutlich vorbereitet, später musste sie improvisieren. Yasmin hatte Sophia ja ihren Kittel umgelegt, in dem sich ein Stift und ihr Rezeptblock befanden. Ihre Schrift war kaum lesbar, weil sie blind schreiben musste. Unter der Decke, die sie umhüllte. Caspars Erinnerungen an die Ereignisse der letzten Stunden zersplitterten in Millionen blutiger Scherben und setzten sich sofort wieder zu einem neuen, schauderhaften Mosaik zusammen.
Deshalb also
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