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Der Seelenfänger (German Edition)

Der Seelenfänger (German Edition)

Titel: Der Seelenfänger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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Alle, die etwas auf sich hielten, gaben sich ein Stelldichein, aber auch ganz gewöhnliche Leute waren da. Bankiers im Smoking schauten auf Arbeiter in Werktagskleidung. Hausmädchen bestaunten die juwelenbehangenen Damen der feinen Gesellschaft. Und über dieser Versammlung aus Reichen und Armen hingen Kristalllüster und verbreiteten gleißendes elektrisches Licht – selbstverständlich aus Edisons immerwährenden elektrischen Glühbirnen.
    Doch es waren nicht allein Juwelen und Glühbirnen, die so hell leuchteten. Das Publikum selbst stand unter Strom, befeuert von dem, was Roosevelt die Seele der Stadt genannt hatte. Nicht Zaubersprüche und Magie, sondern die Energie von Menschen, die alles hinter sich gelassen hatten, um sich hier in der Neuen Welt ein neues Leben aufzubauen. Manche waren dabei kläglich gescheitert, andere aber waren erfolgreicher, als sie es sich in ihren kühnsten Träumen je ausgemalt hatten. Und Träume hatten sie alle. Diese Kraft – die Anspannung und der Wille aller gewöhnlichen New Yorker – wollte sich J.P.Morgaunt für seine egoistischen Ziele zu eigen machen.
    Sascha wollte Lily diese blitzartige Erkenntnis mitteilen. Sollte sie Wolf als Erste finden, musste sie ihn warnen, dass Morgaunt die Energie des Publikums gegen ihn wenden würde. Doch gerade als Sascha den Mund zum Sprechen öffnete, begann das Orchester zu spielen.
    »Es geht los!«, rief Rosie über den Klängen von »Bezaubere mich«. »Ich muss mich umziehen und Edison ausfindig machen!«
    »Wirst du ihn warnen?«, fragte Sascha. Er war sich nicht schlüssig, ob das eine gute Idee war.
    »Wenn ich ihn noch rechtzeitig erreiche«, sagte Rosie. »Aber er wird nicht auf mich hören, er ist schrecklich stur.«
    Sascha folgte Rosies Blick auf die Bühne, wo Arbeiter noch emsig damit beschäftigt waren, alles herzurichten, ehe der Vorhang aufging. Was sie dort aufgebaut hatten, war höchst merkwürdig. Auf der einen Seite stand der Ätherograph in einem Wust aus elektrischen Kabeln, Schaltern und Isolatoren. Auf der anderen Seite thronte die Wasserfolterzelle mit ihren schweren Vorhängeschlössern und der bedrohlich schimmernden Panzerglasscheibe. Die beiden Geräte standen sich auf der ansonsten leeren Bühne gegenüber wie zwei Duellanten, die sich darauf vorbereiten, die Pistolen aufeinander anzulegen.
    Sascha und Lily versuchten, Wolf im Publikum auszumachen, doch die einzigen bekannten Gesichter, die sie entdeckten, gehörten dem Polizeipräsidenten Keegan und J.P.Morgaunt. Beide saßen genau in der Mitte der ersten Reihe. So konnte niemand von der Bühne in den Zuschauerraum gelangen, ohne dass sie es bemerkt hätten.
    »Houdini ist unsere einzige Hoffnung«, sagte Lily. »Wenigstens wissen wir, wo er ist. Selbst wenn wir Wolf unter den Zuschauern finden, könnten wir nicht zu ihm, ohne von Morgaunt gesehen zu werden.«
    Während sie noch sprach, ging eine Welle der Erregung durch das Publikum. Der Vorhang hob sich und Houdini betrat in Begleitung von einem halben Dutzend stämmiger Leibwächter die Bühne.
    Lily seufzte. »So viel dazu.«
    Sie sah verzweifelt zu Houdini hinüber, während Sascha in die Dunkelheit hinter den Kulissen spähte. Er hätte schwören können, dass sich dort etwas bewegte.
    Und tatsächlich hörte er ein leises Flüstern, das er nie bemerkt hätte, wenn er nicht schon innerlich darauf gewartet hätte. Dort im Dämmerlicht sah er, wenn auch nur flüchtig, was er seit ihrem Eintritt in den Theaterraum befürchtet hatte: einen schmalen, jungenhaften Schatten, der sich wie auf Samtpfoten durch die Kulissen bewegte.
    Der Dibbuk musste Sascha ebenfalls bemerkt haben, denn er verschwand in eine Ecke, sobald er Saschas Blick auf sich spürte.
    Sascha drehte sich um und wollte nach Lily rufen. Aber die war weitergegangen und versuchte, Wolf zu finden. Wenn er ihr jetzt folgte, würde er die Spur des Dibbuks verlieren – und damit die letzte Chance, ihn zu hindern, den Anschlag auf Edison auszuführen. Wenn er jetzt laut nach Lily rief, würde er jeden Polizeibeamten und Wächter im ganzen Hotel auf sie aufmerksam machen.
    Sascha blieb daher nur eines übrig.
    Er folgte dem Dibbuk.

28   Duell der Giganten
    In den Kulissen des Theaters roch es nach frischer Farbe und Sägemehl. Hoch oben baumelten Scheinwerfer an Hanfseilen, die so dick waren wie Saschas Arme. Mächtige Stoffbahnen bauschten sich im Luftzug wie die Segel eines Viermasters.
    Ein Pfiff von oben ließ Sascha zusammenzucken. Dann

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