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Der Seelenfänger (German Edition)

Der Seelenfänger (German Edition)

Titel: Der Seelenfänger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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Sascha. Er warf verächtlich die Hände in die Luft und entfernte sich von dem Kreis, den er in den Staub gezeichnet hatte. »Das ist das Dümmste, was ich je getan habe. Es hat mich schon eine gute Hose gekostet und jetzt will ich nicht länger hier warten und womöglich von der Polizei erwischt werden. Macht, was ihr wollt. Ich gehe …«
    Da hörte er, wie einer der Stühle umfiel.
    Er schaute gerade Lily an, als das Geräusch ertönte. Nie, selbst wenn er hundertzwanzig Jahre lebte, würde er den Ausdruck des Entsetzens vergessen, der auf ihrem Gesicht erschien.
    »Um Gottes willen«, flüsterte sie mit Tränen in den Augen. »Ach, Sascha, ich hätte das nie zugelassen, wenn ich wirklich geglaubt hätte, dass …«
    Einen Augenblick lang hatte Sascha den wilden Gedanken, einfach an Lily vorbei hinaus auf die Straße zu laufen. Aber das ging nicht, wie er nur zu gut wusste. Weglaufen war nicht mehr möglich, denn wohin hätte er laufen sollen?
    Er drehte sich um. Der Dibbuk trug Saschas Hosen und sein Hemd, so, wie er vermutet hatte. Das Hemd war so makellos rein, dass Sascha plötzlich das Bild vor Augen hatte, wie der Dibbuk spätnachts, als die Lichter schon längst erloschen waren und alle Bewohner des Mietshauses im Bett lagen, das Hemd gewissenhaft an der Pumpe im Hinterhof wusch. Ihn schauderte. So schlimm es auch war, sich den Dibbuk als Mörder vorzustellen, noch schlimmer war für Sascha der Gedanke, dass das Gespenst versuchte, ein gewöhnlicher Junge, mit anderen Worten Sascha zu sein.
    »Was jetzt?«, flüsterte Lily.
    Sascha warf einen fragenden Blick auf Rosie. Auch sie machte nur eine hilflose Geste. »Stand in dem Buch nicht, wie man ihn wieder loswird?«
    »Nein. Und falls doch, habe ich so weit nicht gelesen.«
    »Sascha«, flüsterte Lily hinter ihm.
    Er achtete nicht auf sie.
    »Sascha! Der Kreis!«
    Sascha sah auf den Boden und merkte erst jetzt, dass er beim Beschwören des Dibbuks irgendwann auf die Kreislinie getreten sein musste. Es war nicht mehr als eine leicht verschmierte Stelle, aber das genügte schon.
    Der Dibbuk schlich an der Kreislinie entlang, bis er die Stelle gefunden hatte. Dann entwich er durch die Lücke wie Zigarettenrauch durch ein Schlüsselloch.
    Die Art und Weise, wie sich der Dibbuk fortbewegte, verursachte Sascha Übelkeit. Er schaute zu Boden und der Magen drehte sich ihm um. Was sich alte Weiber erzählten, stimmte also, oder doch zum Teil. Obwohl die Füße des Dibbuks halbwegs normal aussahen, waren die Spuren alles andere als normal. Es sah aus, als sei ein chimärenhaftes Wesen über den staubigen Fußboden der Schul gekrochen. Die Spuren waren weder die eines Vogels noch die eines Menschen, sondern waren einfach nur unheimlich und schrecklich.
    Der Dibbuk kam auf Sascha zu – und schwebte an ihm vorbei hinüber zu Lily, die immer noch schreckensstarr am Fenster stand.
    Er hob die geisterhafte Hand und berührte Lily an einer Stelle gerade über ihrem Herzen. Wieder nahm er seine konturlose, zigarettenrauchartige Gestalt an, aber diesmal wehte er nicht davon.
    Diesmal zog er etwas aus Lily heraus.
    Der Anblick war so unheimlich, dass Sascha einen Augenblick lang nur reglos zusehen konnte. Dann durchzuckte es ihn wie ein Stromschlag. Lily würde gleich sterben, und er stand daneben und glotzte wie ein Tourist, der zum ersten Mal das Flatiron-Hochhaus sah!
    Er stürzte sich auf den Dibbuk. Es war ein Gefühl, als würde er mit einer Wolke kämpfen, aber schließlich bekam er doch sein zweibestes Hemd zu fassen, und nun konnte er das Gespenst am Schlafittchen durch den Raum zerren.
    Beide torkelten rückwärts in den Zauberkreis. Mit einer freien Hand schaffte Sascha es irgendwie, die Kreislinie neu zu ziehen.
    Wie lange ihr Kampf auf Leben und Tod dauerte, wusste er nicht. Wenn er sich später daran erinnerte, kam er zu dem Ergebnis, dass nur wenige Sekunden vergangen waren. Doch während er mit dem Dibbuk rang, schien ihn das Jahre seines Lebens zu kosten.
    Anfangs dachte er, das Gespenst niemals bezwingen zu können. Jedes Mal, wenn er das Wesen packen wollte, entzog es sich ihm wie ein Rauchschwaden und ließ nur leere Luft zurück. Je länger sie aber miteinander kämpften, desto mehr gewann der Dibbuk an Gewicht und Substanz. Statt Rauch zu verscheuchen, hatte Sascha bald den Eindruck, Wasser mit bloßen Händen greifen zu wollen. Einen festen Halt bekam er nirgends, aber er spürte, wie ihm eine eiskalte Flüssigkeit durch die Finger rann. Die Finger

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