Der Seelenfänger (German Edition)
J.P.Morgaunt einsetzen konnte.
Morgaunt beherrschte den Dibbuk eigentlich nicht. Dieser Geist war kein bloßes Werkzeug, allenfalls ein nur halb gezähmtes Tier. Welche Strafe konnte für den Dibbuk schlimmer sein, als mit ansehen zu müssen, wie sich Sascha frei in der Welt bewegte? Und welche Belohnung wäre größer für ihn, als die Gelegenheit zu erhalten, Sascha zu verschlingen? Unten auf der Bühne hatten Houdinis Assistenten dem Meister Ketten und Schlösser an Hand- und Fußgelenken angelegt. Nun tauchten sie ihn langsam in die Wasserfolterzelle. Das Orchester spielte nun schon zum vierten Mal »Asleep in the Watery Deep«.
»Na los!«, schrie Sascha. »Worauf wartest du noch?«
Der Dibbuk zögerte. Dann wagte er einen Ausfallschritt. Es war nicht viel, aber damit brachte er sich in Saschas Reichweite. Sascha sprang auf ihn zu, um ihn zu packen.
Doch dazu kam es nicht.
Gerade als Sascha sich auf den Dibbuk stürzen wollte, tauchte ein weiterer Schatten auf der Beleuchterbrücke auf, erwischte Sascha im Flug und warf ihn krachend auf den metallenen Rost der Brücke.
Im Kampf mit dem Unbekannten sah Sascha mehrmals den gähnenden Abgrund unter sich. Als er endlich auch in das Gesicht seines Gegners blicken konnte, hätte er vor Wut und Verzweiflung schreien können.
»Antonio! Was tust du da? Siehst du denn nicht, dass sie gleich Thomas Edison umbringen wollen?«
»Edison ist mir egal! Aber du hast meinen Vater getötet! Du kommst mir nicht ungeschoren davon!«
»Ich hab ihn nicht umgebracht!«, keuchte Sascha, aber Antonio hörte gar nicht zu.
Der Kampf währte nicht lange. Auf der schmalen Brücke fehlte der Raum für die Tricks, die Sascha von Shen gelernt hatte, und Antonio war ein guter Straßenkämpfer. Schnell war Sascha klar geworden, dass er keine Chance gegen ihn hatte. In der nächsten Sekunde lag er auf dem Rücken, Antonio kniete auf ihm und drückte ihm die Kehle zu.
Da erschien der Dibbuk von hinten und legte Antonio die Hand auf den Kopf.
Es sah aus, als striche er Antonio übers Haar. Es war die gleiche zärtliche Geste, mit der Saschas Mutter, wenn sie abends aus der Pentacle-Textilfabrik heimkam, ihren Sohn, wenn er am Küchentisch über seinen Hausaufgaben eingeschlafen war, sanft weckte.
Doch dann geschah etwas Merkwürdiges. Es war anders als nach der Beschwörung in der
Schul
. Da hatte der Dibbuk Lily berührt, um etwas aus ihr herauszuziehen. Nun aber – und das sah Sascha deutlicher als alle Zauberei in seinem bisherigen Leben – stopfte der Dibbuk etwas in Antonio hinein. Zorn und Schmerz hatten in ihm ein Vakuum geschaffen, das der Dibbuk füllte wie ein Zahnarzt ein Loch in einem Zahn. Allerdings, die Füllung, die der Dibbuk Antonio verpasste, war so schwarz, faulig und tödlich, dass sie den Jungen von innen her auffressen würde.
»Nein!«, rief Sascha über die Musik hinweg. »Lass ihn in Ruhe!«
Der Dibbuk hob das fahle Gesicht und starrte Sascha an. Ihre Blicke trafen sich. Die Augen des Dibbuks waren schwarz, so schwarz wie nur die gänzliche Abwesenheit von Licht, Hoffnung und Leben sein kann. Sascha blickte in sie hinein und verzweifelte – er würde sein Schatten-Ich niemals besiegen.
»Wenn du schon jemanden umbringen willst«, sagte er mit zitternder Stimme, die ihm ganz fremd vorkam, »dann nimm mich.«
Der Dibbuk schien Saschas Worte als Einladung zu verstehen, denn eine dicke, ölige Finsternis wirbelte um seinen Kopf. Sie wallte auf, wie fauliges Wasser aus einer überlaufenden Kloake, strömte dann in Sascha hinein und erstickte jede Erinnerung an Freude, Wärme und Glück, alles, was ihn menschlich machte.
Er fühlte, wie sich der Schatten in ihm ausbreitete, wie der Dibbuk durch seine Gedanken fuhr und auch in die geheimsten Falten seines Herzens drang. Seltsam teilnahmslos sah er dem Augenblick entgegen, da sein Menschenleben wie eine heruntergebrannte Kerze noch einmal aufflackerte, um dann zu verlöschen.
Er spürte einen stechenden Schmerz, wie er ihn noch nie erlebt hatte – und dann versank alles in Dunkelheit.
29 Eintritt zu den brennenden Trümmern: 10 Cent
Als Sascha die Augen aufschlug, war der Dibbuk fort. Er senkte den Blick auf seine Brust und sah Blut. Dann schaute er wieder auf und sah Antonio über sich stehen, mit einem Küchenmesser in der Hand.
»Ich wollte dich nicht so schwer verletzen«, sagte Antonio. »Eigentlich wollte ich nur dieses Dingsbums vertreiben.«
»Indem du auf mich einstichst? Und wenn du das
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