Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Seelenfänger (German Edition)

Der Seelenfänger (German Edition)

Titel: Der Seelenfänger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
Vom Netzwerk:
wurden so kalt und gefühllos, als ob sie an Eis hafteten. Dennoch kam er dem Wesen immer näher und das ermutigte ihn, obwohl ihn der Schmerz peinigte.
    Lily und Rosie standen außerhalb des Kreises und schrien auf ihn ein. Ihre Stimmen hörte er aber nur schwach, so als würde sie ein heftiger Wind davontragen.
    Unterdessen nahm der Dibbuk von Minute zu Minute festere Formen an.
    Sein Atem roch wie der Luftschacht einer Mietskaserne: ein Gestank aus ranzigem Öl, toten Ratten, Laken von Sterbebetten und anderen ekelerregenden Dingen, die man lieber heute als morgen loswerden wollte, statt auf die nächste Runde des Lumpensammlers zu warten.
    Schlimmer als der Atem des Dibbuks waren seine Gedanken und Gefühle. Sascha spürte den gierigen Hunger nach Leben und Liebe, nach Wärme und Familie. Vor allem aber spürte er die Wut auf den Dieb, der ihm alles, was er so innig begehrte, gestohlen hatte. Diese Wut hatte sich zu einem seltsam verdrehten Selbsthass entwickelt. Das Schlimmste aber war, dass Sascha wusste, wer der Dieb war. Der Dibbuk war sich nicht bewusst, dass er ein Dibbuk war. Vielmehr hielt er sich für Sascha. Sascha war für ihn der Dibbuk – und er war der Junge aus Fleisch und Blut. Er glaubte, Sascha habe ihm das Leben gestohlen.
    Je länger sie miteinander rangen, desto schwieriger wurde es, zu entscheiden, wer von ihnen nun recht hatte.
    Schließlich setzte Rosie dem Kampf ein Ende. Sie trat in den Kreis und warf dem Dibbuk mit aller Kraft ein Buch an den Kopf.
    Das Buch ging durch den Dibbuk hindurch wie ein Messer durch Butter und traf Sascha so hart an der Stirn, dass er der Länge nach zu Boden fiel.
    Als er wieder zu sich kam, war von dem Dibbuk nichts mehr zu sehen, stattdessen neigten sich Rosie und Lily über ihn.
    »Warum habt ihr das getan?«, fragte er verärgert. »Ich war doch dabei zu gewinnen.«
    »Nein, warst du nicht.« Lily klapperte mit den Zähnen. »Du wurdest immer weniger, während er immer mächtiger wurde. Man konnte schon durch dich hindurchsehen wie bei einem Gespenst. Hätte Rosie nichts unternommen, dann wärst du …« Sie schauderte und schlug sich die Hand auf den Mund aus Furcht, das Wort auszusprechen.
    »Wohin ist er verschwunden?«
    »Durchs Schlüsselloch nach draußen«, sagte Rosie. »Wie ein Vampir. Dabei dachte ich immer, Vampire seien sanft und stilvoll. Der dagegen war einfach nur grässlich.«
    »Glaubt ihr, dass er für immer weg ist?«, fragte Sascha, wohl wissend, dass das nicht der Fall war.
    »Nein«, erwiderte Lily düster. »Und es waren auch nicht wir, die ihn vertrieben haben.«
    »Wie meinst du das?«
    »Wie ich schon sagte. Du warst nicht am Gewinnen. Und vor Rosie hatte er schon gar keine Angst. Nein, er hat einfach das Interesse verloren.«
    »Ja«, bestätigte Rosie missvergnügt, »so als ob ihm eingefallen wäre, dass er Wichtigeres zu tun hat.«
    »Das ergibt doch keinen Sinn. Was könnte den wichtiger für den Dibbuk sein als das hier?«
    Statt einer Antwort bückte sich Lily und hob die halb zerdrückten Cannoli in der Zeitungsverpackung auf.
    »Lily!«, rief Sascha entnervt. »Hast du denn nichts anderes im Kopf als essen?«
    Sie sah ihn gekränkt an. »Ich hebe die Zeitung nicht auf, um sie abzulecken, sondern damit du sie lesen kannst.« Sie hielt sie ihm direkt vor das Gesicht. »Da. Wenn du wissen willst, was der Dibbuk heute Abend Wichtigeres zu tun hat, als dich abzumurksen. Lies!«
    Er nahm die Zeitung und las die ins Auge springende Schlagzeile:
    HEUTE ABEND BEGEGNUNG EDISON – HOUDINI
    Die New Yorker High Society eilt zum Hotel Elefant, um das Duell zwischen dem Zauberer vom Lunapark und dem Meister der Entfesselungskunst zu sehen.
    »Um Gottes willen!«, rief Rosie plötzlich in atemloser Panik. »Ich bin ja so spät dran! Ich hätte schon vor einer Stunde nach Coney Island fahren sollen!« Sie griff nach ihrem Mantel und eilte, ohne dass es ihr gelang, die Arme in die Ärmel zu bekommen, zur Tür. »Entschuldigt bitte. Hoffentlich wird doch noch alles für euch gut, aber ich muss jetzt wirklich los!«
    Sascha und Lily sahen sich an.
    »Rosie, warte doch einen Augenblick«, sagte Sascha. »Ich glaube, wir kommen lieber mit.«

27   Im Bauch des Elefanten
    Die drei sprangen aus dem Zug und sprinteten zum Eingangstor des Hotels Elefant. Dort bekamen sie gerade noch die Ankunft der letzten Gäste mit. Die Creme der New Yorker Gesellschaft stand vor dem Treppenaufgang zwischen den säulenartigen Vorderfüßen des Elefanten,

Weitere Kostenlose Bücher