Der Seelenfänger (German Edition)
Lehrer schien begriffen zu haben. Sie sah danach so zufrieden und glücklich aus, wie Sascha sie nie zuvor gesehen hatte. Und auch Rabbi Kessler war zufrieden. »Es gibt eine richtige und eine falsche Weise, den Gedanken an die Toten lebendig zu halten«, sagte er zu Saschas Vater, als er die Schul abschloss. Dann sah er ihn vielsagend an und meinte: »Vielleicht hättest du doch ins Familiengeschäft einsteigen sollen.«
Sascha war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Und auch die Blicke, mit denen gleich darauf sein Vater und sein Großvater ihn ansahen, blieben ihm ein Rätsel. Noch ratloser stand er vor der Tatsache, dass sein Dibbuk offenbar wirklichen Frieden in Mrs Lehrers Leben gebracht hatte. Außer dass das Gespenst seit dem Brand des Hotels Elefant verschwunden war, wusste er nichts über sein weiteres Schicksal. In der ersten Zeit danach machte er sich Sorgen, aber die Wochen und Monate vergingen, und schließlich sagte er sich, dass Nichtwissen manchmal besser sei als Wissen. Und wenn sich der Dibbuk mit Mrs Lehrers Ersparnissen ein schönes Leben machte, sollte ihm das auch recht sein. Leben und leben lassen, das war Saschas neue Devise – wenigstens solange der Dibbuk sich nicht in seiner Nachbarschaft niederließ.
Sascha kam sogar wieder einigermaßen mit Inquisitor Wolf aus. Wolf hatte Sascha nicht entlassen, was angesichts der Lügen, die er ihm aufgetischt hatte, schon an ein Wunder grenzte. Auch hatte er ihn nie wegen des Durcheinanders im Fall Edison getadelt. Und wegen seiner Familie eckte Sascha nicht beim Inquisitor an. Nur Onkel Mordechai schien für Wolf ein schwer zu verdauender Brocken zu sein.
Wolf hatte alles ohne Naserümpfen hingenommen. Als Sascha Wolf fragte, ob er glaube, dass der Dibbuk ein für alle Mal verschwunden sei, da hob dieser nur die Schultern und sagte, er hoffe es.
»Das war’s dann also. Und was ist mit J.P.Morgaunt?«, fragte Sascha.
»Was soll denn mit ihm sein?«
»Nun, was soll ich jetzt machen? Einfach mein normales Leben führen und dabei wissen, dass mich der mächtigste Mann von New York umbringen will?« Dass J.P.Morgaunt ihn am liebsten gekauft hätte, verschwieg er freilich. Die Vorstellung, dass er am Ende für den Finanzmagier arbeiten könnte, war irgendwie noch unheimlicher, als an dessen Mordpläne zu denken.
»Er denkt doch nicht daran, dich umzubringen, Sascha. Ihm geht es doch darum, mit der Magie aufzuräumen. Du bist ihm dabei nur in die Quere gekommen.« Wolf lächelte. »Und nicht nur du.«
Und mehr sagte Wolf nicht dazu. Aber ein paar Tage später kam ein Päckchen für Saschas Mutter an. Das Päckchen hatte keinen Absender und enthielt ihr Medaillon samt dem reparierten Halskettchen.
Na, und Lily Astral, sie war eigentlich sogar ganz nett, wenn man sie erst mal ein bisschen kannte. Wäre sie nicht so unwahrscheinlich reich gewesen, dann hätte sich Sascha sogar vorstellen können, mit ihr befreundet zu sein. Während er sich seine ausgelassen lachende Familie anschaute, wünschte er sich Lily sogar herbei. Doch das war ja verrückt. Die Kesslers hatten nicht einen einzigen Stuhl, auf den sich Maleficia Astrals Tochter bedenkenlos hätte setzen können.
Davon abgesehen, hatten Lilys Eltern ihre Tochter für die Weihnachtsferien in ihr Strandhaus in Newport im Staat Rhode Island geschickt. Anfangs war das für Sascha ein Rätsel gewesen, denn er konnte sich nicht vorstellen, warum Menschen mit halbwegs gesundem Verstand im Dezember an den Strand fuhren. Aber dann hatte Lily ganz nebenbei erwähnt, dass ihr »Strandhaus« aus Marmor gebaut war und über zweiunddreißig Schlafzimmer verfügte. Mehr brauchte man zu der Frage, ob Sascha Kessler und Lily Astral jemals Freunde sein könnten, auch nicht zu wissen.
Dieser Gedanke bedrückte Sascha mehr, als er zugeben wollte, und er fragte sich, warum er überhaupt mit einem Mädchen befreundet sein wollte, als Mrs Lehrer von nebenan seinen Namen rief. »Saschale! Da ist Besuch für dich!«
Sascha zuckte zusammen. Ob Lily ihn doch irgendwie aufgespürt und den Weg zu seiner Wohnung gefunden hatte? Wenn ja, dann würde er ihr die Demütigung, die für ihn damit einherging, nie und nimmer verzeihen! Aber dann erinnerte er sich, dass Lily ja in Rhode Island war.
Im nächsten Augenblick stürzte er zur Tür und stand dem Besuch gegenüber.
Es war Antonio.
Sascha sah ihn lange an. Er wusste nicht, worüber er sich mehr wundern sollte: über Antonios Mut, allein durch Straßen zu
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