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Der Seelenfänger (German Edition)

Der Seelenfänger (German Edition)

Titel: Der Seelenfänger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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Schatten? Morgaunts Wortwahl mochte Zufall sein.
    »Ich bin nicht interessiert«, flüsterte Sascha.
    »Ich wette, dass ich dich noch umstimmen kann«, sagte Morgaunt mit einem boshaften Lachen. »Soll ich?«
    Lieber Gott, was sollte das nun wieder heißen? Sascha dachte an seine Familie und ihm wurde vor Angst der Mund trocken.
    Morgaunt ließ Saschas Hand so überraschend los, dass der beinahe nach hinten gefallen wäre.
    »Jetzt mach doch nicht so ein besorgtes Gesicht, junger Mann. Wenn du unbedingt Polizist sein willst, muss ich mich wohl damit abfinden. Vorerst.«

30   Ein Anfang
    Chanukka war Saschas Lieblingsfeiertag, auch wenn es nach Großvater Kesslers Ansicht gar kein echter Feiertag war. Tatsächlich mochte Sascha aber gerade das. Niemand nahm diesen Tag übertrieben ernst, die Erwachsenen spielten wohlwollend mit, damit die jüdischen Kinder wie ihre irischen und deutschen Spielkameraden ein Fest hatten, an dem es Süßigkeiten und Geschenke gab.
    Selbst die Kerzenweihe – also das eigentliche Feiertagsereignis – war kein steifes Ritual, da Onkel Mordechai zu den hebräischen Worten immer mit Pokermiene eine nicht ganz ernst gemeinte jiddische Übersetzung gab.
    Rabbi Kessler stimmte das Gebet an: »Baruch atah Adonaj, Elohejnu Melech HaOlam, ascher kideschanu bemitzwotaw we’tziwanu lehadlik ner schel’chanukkah.«
    Onkel Mordechai übersetzte auf seine Art: »Gepriesen seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der Du uns doppelt so viele Gebote verordnet hast wie den Gojim. Wir haben genug Gebote! Wir haben die Kerzen angezündet. Können wir jetzt essen?«
    »Baruch atah Adonaj, Elohejnu Melech Haolam, sche’asah nissim La’wotejnu bajamim hahem basman haseh.«
    »Gepriesen seist Du, Ewiger, et cetera, et cetera, du hast den Israeliten vor vielen Tausend Jahren Wunder erwiesen. Aber in letzter Zeit hat es sehr nachgelassen. Nicht dass wir uns beklagten! Aber die Zeit ist reif für Wunder und wir könnten einige gebrauchen!«
    Alle lachten über Mordechais komische Übersetzung. Sascha sah die Mitglieder seiner Familie der Reihe nach an und genoss die gemütliche Atmosphäre in der kleinen Küche. So besehen, sagte er sich, brauchen sie überhaupt kein Wunder.
    Das Leben war schön in der Hester Street. Sascha hatte nach wie vor seine Anstellung – was tatsächlich an ein Wunder grenzte, wenn er an die vielen Lügen dachte, die er erzählt hatte. Und Mr Kessler blieb dabei, Saschas Lehrlingslohn nicht auszugeben, sondern auf die Bank zu bringen. Aber allein die Tatsache, das Geld auf der Bank zu haben, bewirkte, dass Sascha sich zum ersten Mal in seinem Leben von der nagenden Sorge befreit fühlte, ob seine Familie Rechnungen begleichen, die laufende Miete bezahlen oder, wenn jemand krank wurde, den Arzt kommen lassen konnte.
    Sogar Mo und Mrs Lehrer ging es jetzt gut. Seit Mrs Lehrer den Mantel mit den Ersparnissen verloren hatte, war sie wie verwandelt. Sie schleppte zwar immer noch jeden Morgen Stöße von halb fertigen Textilwaren die Hester Street hinauf und hinunter, aber zu allen anderen Gelegenheiten trug sie hübsche geblümte Kleider und hatte einen elastischen Gang, der sie zehn Jahre jünger machte. Ja, in letzter Zeit sah man sie sogar mit einem modischen Strohhut, den künstliche Weintrauben und Seidenblumen zierten.
    »Das ist eigentlich etwas für sehr viel jüngere Frauen«, meinte Saschas Mutter, »aber wenigstens gibt sie endlich einmal Geld für sich selbst aus!«
    Saschas Vater sagte dazu wie üblich nichts. Aber später beobachtete Sascha, dass sein Vater erst leise auf Mrs Lehrer einredete und ihr dann lange zuhörte, so lange, wie sonst noch nie jemand ihr zugehört hatte. In der folgenden Woche aber standen sein Vater und Mo Lehrer gemeinsam in der Synagoge und sprachen das Kaddisch, das Totengebet, für Mrs Lehrers Schwestern.
    Der feierliche Klang des altehrwürdigen Gebets hallte durch die Schul wie das Läuten einer dunkel tönenden Glocke, und im Hintergrund hörte Sascha etwas, was er in all den Jahren, die er in der Hester Street verbracht hatte, noch nie gehört hatte: Mrs Lehrer schluchzte. Sascha verstand nicht, warum man sie mit dem Kaddisch zum Weinen brachte, wie er im Übrigen auch den Sinn dieses Gebets nie ganz verstanden hatte. Eigentlich ging es darin gar nicht um den Tod und schon gar nicht um den gewaltsamen und sinnlosen Tod. Die Worte stellten lediglich einen Lobpreis auf den EINEN , über alles Irdische erhabenen Gott dar.
    Doch Mrs

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