Der Seelenfänger (German Edition)
seine Haltestelle verschlafen, wenn nicht eine korpulente Dame mit einem ausladenden federgeschmückten Hut über seinen Fuß gestolpert wäre und ihn dabei mit ihrem Schirm fast aufgespießt hätte.
Er hatte die halbe Nacht nicht geschlafen. Kaum waren die anderen zu Bett gegangen, hatte er sich Großvater Kesslers kabbalistische Bücher unter den Arm geklemmt und sich auf die Feuertreppe geschlichen. Dort, im schwachen Schein der Gaslaterne, hatte er fröstelnd alles gelesen, was er unter dem Stichwort Dibbuk fand.
Über das Ergebnis war er nicht froh. Niemand wusste, wie man einem Dibbuk den Garaus machen konnte, ohne dessen Opfer gleich ebenfalls auszulöschen. Und selbst das gelang nicht immer. Ein Dibbuk wurde zu einem Teil des Betroffenen – wie dessen Arm, Bein oder Herz. Nur gehörte dieser Teil nicht zu dieser Welt. Und wenn erst einmal ein Dibbuk von einem Menschen Besitz ergriffen hatte, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis er seinem Opfer das Leben stahl und es an den schrecklichen Ort brachte, wo Dibbuks zu Hause waren. Nur wenigen Menschen war es gelungen, mit einem Dibbuk im Leib zu überleben. Das waren große, fromme Rabbis gewesen und selbst die hatten ihre Dibbuks nicht besiegt. Sie hatten nur gelernt, mit ihnen zu leben, wie ein Mann, der einen halbwilden Löwen in seinem Haus hält. Der Löwe könnte sich aus seinen Fesseln lösen und ihn verschlingen, wenn der Mann nur einen Augenblick nicht auf der Hut war. Mit jeder weiteren schrecklichen Geschichte, die er las, wuchs Saschas Mitgefühl für den armen Thomas Edison. Sollte wirklich ein Dibbuk hinter ihm her sein, dann war ihm ein schlimmes Schicksal beschieden, vor dem ihn kein Mensch bewahren konnte.
Was bedeutete, dass es für Sascha nur eine Möglichkeit gab, seine Familie zu schützen: Er musste unbedingt herausfinden, wer den Dibbuk heraufbeschworen hatte.
Über dieser Frage grübelte Sascha immer noch, als er es erneut fertigbrachte, Philip Payton zu kränken.
Es begann damit, dass er vor der Polizeibehörde ankam und Maximilian Wolf gerade aus einer Droschke stieg.
»Na, wie gewöhnst du dich in die neue Arbeit ein?«, fragte ihn Wolf. »Gibt es Fragen, gibt es Wünsche?«
Sascha dachte, dass Wolf nur aus Höflichkeit fragte, aber da er nicht stumm bleiben wollte, sagte er: »Nun, ein Schreibtisch wäre nicht schlecht … oder wenigstens ein Stuhl?«
»Das klingt vernünftig«, bemerkte Wolf, so als wäre er selbst nie auf die Idee gekommen. Er winkte vage mit der Hand. »Wir besprechen das mit Payton. Er wird sich um dich kümmern.«
Als sie dann aber in seinem Büro ankamen, rauschte Wolf ohne ein Wort durch das Vorzimmer, und Sascha musste sehen, wie er selbst zurechtkam.
Lily Astral war schon da, man hörte sie mit Payton scherzen, als wären die beiden alte Freunde. Sascha räusperte sich mehrmals, aber keiner bemerkte ihn.
»Ähem, entschuldigt bitte, aber ich brauche jemanden, der mir einen Schreibtisch besorgt, an dem ich arbeiten kann.«
Payton drehte sich um und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Sehe ich wie ein Hausmeister aus?«
»Äh, nein, aber Inquisitor Wolf sagte …«
»Ich glaube, du hast ihn falsch verstanden.«
»Aber …«
»Hör mal, Sandy …«
»Sascha.«
»Meinetwegen auch das. Ich erkläre dir jetzt in einfachen Worten, worum es geht. Ich bin die bewährte Fachkraft, die den Laden hier schmeißt, damit Inquisitor Wolf Verbrechen aufklären und Verbrecher fassen kann. Du bist das nichtsnutzige Bübchen, das uns ständig ins Gehege kommt und dem Inquisitor und mir die Zeit stiehlt, die wir für echte Ermittlungsarbeit brauchten. Wenn du unbedingt einen Schreibtisch haben willst, dann geh ins Kellergeschoss und such dir dort einen. In deiner freien Zeit. Damit du aber nicht das Gefühl hast, ganz unnütz zu sein, kannst du als Kesseljunge zum Witch’s Brew gehen.«
Und dann fischte Payton einen verbeulten alten Zinkeimer unter seinem Schreibtisch hervor und warf ihn lässig, aber doch gezielt in Richtung von Saschas Kopf.
Sascha hob gerade noch rechtzeitig die Hand, um den Eimer zu fangen. Eine Weile blieb er fassungslos, bis Lily ihm den Eimer aus der Hand nahm und keck aus dem Büro stolzierte.
Sie tat so, als wüsste sie, wohin sie zu gehen hatte. Das war selbstverständlich nicht der Fall, sonst wäre sie genauso verdattert gewesen wie Sascha.
Der hatte in seinem jungen Leben schon viele solcher Eimer oder Kessel gesehen und auch viele Kinder, die als Kesseljunge in die
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