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Der Seelenfänger (German Edition)

Der Seelenfänger (German Edition)

Titel: Der Seelenfänger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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kalt und durchdringend anschauen, wenn Wolf dahinterkäme, dass Sascha ihn angelogen hatte. Bei diesem Gedanken wurde ihm ganz unwohl.
    Wie hatte er sich nur in diesen Schlamassel gebracht? Er war doch sonst kein Lügner! Es musste einen Weg geben, aus der Grube herauszukommen, die er sich selbst gegraben hatte!
    Er öffnete schon den Mund, um Wolf alles über das Medaillon zu erzählen, da kamen ihm die Erinnerungen an die schrecklichen Werbeplakate für den Ätherographen und an die kalten Augen, die ihn beim Spießrutenlaufen durch die Empfangshalle der Polizeibehörde verfolgt hatten. Er schloss den Mund wieder und schaute zum Fenster hinaus. Wolf mochte ihm ja glauben, dass die Kesslers keine Verbrecher waren, aber alle anderen nicht. Alle anderen würden sich darin einig sein, dass Rabbi Kessler – ein stadtbekannter Kabbalist – den Dibbuk geschickt hatte. Und wenn sie das erst einmal glaubten, dann konnte Sascha nichts mehr tun, um sie von dieser Meinung wieder abzubringen.
    Nein, entschied Sascha. Der einzige Ausweg aus diesem Schlamassel war, den Mund zu halten und Wolf zu helfen, den richtigen Mörder zu fassen. Erst danach würde er Wolf alles erzählen, auch wenn das bedeutete, dass Wolf ihn dann mit seinen grauen Augen durchdringend anschauen und ihn fragen würde: »Sascha? Du hast mich
belogen

    Aber Wolf jetzt alles zu sagen, wäre töricht.
    Und die Familie einzuweihen, wäre noch törichter. Er musste das jetzt allein durchstehen. Die Eltern würden das, was er zu entscheiden hatte, nicht verstehen. Sie würden versuchen, ihn zu schützen, weil das von Eltern erwartet wurde. Aber da gab es etwas, was Sascha zum ersten Mal klar geworden war, als er mit seiner Mutter einen Laden betrat und der Händler sich an ihn wandte, als sei er der Erwachsene, weil das Englisch seiner Mutter nicht ausreichte. Seine Eltern verstanden nicht, dass Sascha ein Amerikaner geworden war, während sie Fremde blieben. Das aber bedeutete, dass er nun die Pflicht hatte, sich um sie zu kümmern.
    Als Sascha schließlich die Treppe der U-Bahn-Station Astral Place erklomm, war die Hauptverkehrszeit schon lange vorbei. Auch die Kneipen der Bowery hatten sich geleert, da die Feierabendtrinker zum Abendessen nach Hause strebten.
    Im Vorübergehen schaute er kurz ins Café Metropol in der Hoffnung, Onkel Mordechai anzutreffen. Vom Onkel war aber nichts zu sehen, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als allein heimzugehen.
    Draußen herrschte schon Dämmerstunde, in der die meisten Menschen behaglich am Abendbrottisch saßen und die Straßen den Ratten, streunenden Katzen und Fledderern überlassen blieben.
    Sascha bog in die Hester Street ein und schlich die Häuserfassaden entlang. Er vermied es, an das Medaillon seiner Mutter und Houdinis beunruhigende Visionen von Hunger und Dunkelheit zu denken. In den hell erleuchteten Fenstern über ihm sah er Menschen ihren Alltagsgewohnheiten nachgehen. Wie sehr wünschte er sich, an ihrer Stelle zu sein! Um diese Zeit wollte man in einer warmen, von einer Lampe erleuchteten Küche sitzen und vertraute Worte hören, anstatt noch hier draußen zu sein, wo aus allen Seitengassen Schatten drangen.
    Er war fast zu Hause angekommen, als er den Eindruck hatte, dass ihm Schritte folgten. Bilder von Hunger und Kälte schreckten ihn, dennoch drehte er sich um, bereit, den Kampf aufzunehmen. Aber da war nichts – nur das Dunkel der Nacht hielt in den engen Gassen Einzug, so wie die kalte Flut des Atlantiks den Hudson River hinaufwogte.
    Endlich daheim, passte ihn Mrs Lehrer ab. Sie hielt den Geldmantel in den Händen, in den sie all die Jahre über ihre Ersparnisse genäht hatte, um eines Tages ihre Schwestern aus Russland nach Amerika holen zu können.
    »Er ist fertig!«, rief sie und streckte ihm den Mantel entgegen. »Komm, zieh ihn mal an!«
    Sascha wollte nicht, er fand den Mantel unheimlich, und außerdem roch er muffig. Aber Mrs Lehrer meinte es immer so gut mit ihm, und außerdem gab ihm seine Mutter, die gleich im Nebenzimmer stand, mit einem Kopfnicken zu verstehen, ihr den Gefallen zu tun.
    Der Mantel fühlte sich erstaunlich schwer an, als Mrs Lehrer ihn über Saschas Schultern streifte. Er fragte sich, seit wie vielen Jahren sie ihre Ersparnisse wohl schon darin einnähte. Warum war Mrs Lehrer so wirr und Saschas Mutter so klar im Kopf? Schließlich hatte Ruthie doch auch die Pogrome durchgemacht. Sie hatte sogar ihr Kind verloren, was doch mindestens genauso schlimm sein

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