Der Seelenfänger (German Edition)
musste, wie seine Schwestern in Russland zu verlieren. Aber war Saschas Mutter wirklich so viel stärker als Mrs Lehrer? Oder konnte auch sie den Verstand verlieren, wenn zu dem alten Kummer noch neuer käme? Diese Fragen würde Sascha niemals stellen können. Schon der Gedanke daran war verkehrt, bemühten sich doch alle Erwachsenen tunlichst, jede Erinnerung an Russland und die schweren Zeiten von den Kindern fernzuhalten.
Mrs Lehrer hieß Sascha die Arme heben. »Hörst du es klimpern?«
»Nein.«
»Das ist Kunst, nicht Zauberei. Seit dreißig Jahren schneidere ich nun schon, so lange hat es gebraucht, um solch einen Mantel zu nähen. Dreh dich mal! Tanz!«
Von der Küche aus hatte Saschas Vater mitbekommen, was nebenan geschah. Er schaute durch das Fenster und schien sich ebenso unbehaglich zu fühlen wie Sascha. Und wieder war es seine Mutter, die ihm mit Gesten zu verstehen gab:
Was ist denn schon dabei, wenn es sie doch glücklich macht?
Zögernd und unbeholfen begann Sascha zu tanzen. Da lachte Mrs Lehrer. Einer Eingebung folgend nahm Sascha sie in die Arme und probierte mit ihr ein paar Walzerschritte durch das vollgestopfte Zimmer. Sie stießen gegen Stühle und Bügelbretter und tanzten um Stapel halb fertiger Hemden. Dann bewegten sie sich im Walzertakt in das angrenzende Zimmer, vorbei an den Fenstern und den übrigen Bewohnern, die lachten, klatschten und Stühle beiseiteschoben, um Platz für die Tanzenden zu schaffen.
»Ach!«, rief Mrs Lehrer, als sie sich schließlich auf einen Stuhl fallen ließ, »seit meiner Jugend habe ich nicht mehr so getanzt!«
Ihre Wangen waren gerötet und sie lächelte Sascha an. Dann neigte sie sich zu ihm, als wolle sie ihm ein großes Geheimnis anvertrauen. »Das ist ein großer Tag für mich«, bekannte sie. »Ich habe es geschafft! Kurz bevor du zur Tür hereingekommen bist, habe ich die letzte Münze in den Saum des Mantels genäht. Jetzt habe ich das Geld für die Schiffskarten beisammen. Bis auf den letzten Penny. Ich kann morgen zur Agentur gehen und die Karten für meine Schwestern kaufen!«
Sascha gefror das Lächeln. Mrs Lehrers Schwestern hatten ihr schon seit Jahren nicht mehr geschrieben. Niemand wusste, wo sie wohnten und ob sie überhaupt noch lebten. Hilfe suchend schaute er sich um, aber seine Mutter hatte sich schon wieder über ihre Näharbeit gebeugt und sein Vater und Mordechai sprachen über Politik. Außer Sascha hatte niemand Mrs Lehrers Worte gehört.
»Das ist ja großartig«, sagte er zu ihr in der Hoffnung, das Richtige getroffen zu haben. »Ich freue mich – wahnsinnig – für Sie.«
Mrs Lehrer sah ihn eindringlich an. Plötzlich lächelte sie nicht mehr und sie wirkte auch überhaupt nicht mehr verrückt. Fast schien es, als schaute ihn eine ganz andere Frau aus diesen Augen an, eine Frau, die sehr wohl wusste, dass sie ihre Schwestern nie wieder sehen würde.
»Du bist ein lieber Junge«, sagte sie zu Sascha und tätschelte ihm die Wange. »Du bist immer so nett zu mir gewesen. Ganz wie dein Vater. Wenn du erwachsen bist, wirst du auch mal so ein guter Mann, das weiß ich.«
Nachdem Mrs Lehrer ihm den Geldmantel wieder abgenommen hatte und zu ihrer Arbeit zurückgekehrt war, stand Sascha am Fenster, die Stirn gegen die kalte Glasscheibe gedrückt, und starrte hinaus in die Nacht. Das war das Äußerste, was er tun konnte, um in der engen Wohnung allein zu sein.
Da merkte er plötzlich, dass sein Beschatter wieder unten auf der Straße stand und zu ihm hinaufschaute. Schon starrten sie sich in die Augen.
Erschrocken wich Sascha vom Fenster zurück. Das Herz pochte ihm in der eng gewordenen Brust.
Im Schein der Gaslaterne wirkte das Gesicht der Gestalt verschwommen wie auf einer alten Fotografie. Dennoch war Sascha sicher, dass es sich bei dieser Gestalt und Edisons Dibbuk um ein und dieselbe Person handelte. Und ihm war auch klar, weshalb sie ihm so bekannt vorkam. Rosie DiMaggio hatte recht, der Dibbuk sah tatsächlich wie ein netter jüdischer Junge aus, wie die Hälfte aller netten jüdischen Jungen auf der Lower East Side.
Sascha schauderte es bei dem Gedanken, was geschehen würde, wenn der Dibbuk mit seinem Mordplan Erfolg hätte. Die Polizei würde wegen eines Verdächtigen nicht lange suchen müssen. Und der Mob noch weniger. Dann wären die schlimmen Zeiten zurück, nicht in Russland, sondern hier in der Hester Street.
13 Sascha als Kesseljunge
Am nächsten Morgen nickte Sascha in der U-Bahn ein und hätte
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