Der Seelenfänger (German Edition)
nächste Kneipe geschickt wurden, um sich dort ihren Behälter mit Bier oder Whisky für ihre Eltern füllen zu lassen. Das geschah täglich in allen Vierteln New Yorks, auch wenn Moralisten aus der feinen Gesellschaft immer neue Gesetzesinitiativen für das Verbot des Alkoholverkaufs an Minderjährige einbrachten.
Aber Sascha selbst war niemals Kesseljunge gewesen. Sein Vater trank höchstens Selterswasser und Saschas Mutter … wenn man nach ihr ging, war der Brauch des Kesselholens der direkte Weg ins Staatsgefängnis von Sing-Sing, wo der neumodische elektrische Stuhl wartete. Erst wurden die Kessel für Eltern, Onkel und Tanten mit Bier gefüllt, größer geworden, kratzten dieselben Träger jeden Penny zusammen, um den Eimer für sich selbst zu füllen. Und damit gerieten sie auf die schiefe Bahn, verfielen dem Trunk, heirateten eine Gangsterbraut (oder, schlimmer noch, eine Schickse!) und traten als Auftragskiller in Meyer Minskys Magic Incorporated ein.
Und das alles begann mit dem ersten Gang als Kesseljunge. Und das sollte nun zu Saschas Pflichten in der Inquisitionsabteilung der New Yorker Polizeibehörde gehören! Er wusste nicht, sollte er lachen, weinen oder nach Hause laufen und den Kopf unter dem Kissen verbergen?
»Na los«, fauchte Payton, »worauf wartest du noch?«
Ohne ein weiteres Wort drehte sich Sascha um und eilte Lily nach. Sie war schon ein Stück den Flur hinuntergegangen und wartete auf ihn. »Wo ist denn dieses Witch’s Brew?«, fragte sie, als er sie eingeholt hatte.
»Woher soll ich das wissen? Ich häng normalerweise nicht in solchen Kaschemmen herum.«
Die Tür von Wolfs Büro ging noch einmal auf und Paytons Kopf erschien.
» 52 nd Street, zwischen 8 th und 9 th Avenue«, sagte er und verschwand wieder im Büro.
Sascha war entsetzt. Lily schien der Adresse keine Bedeutung beizumessen, aber das lag nur daran, dass sie in der Millionaire’s Mile aufgewachsen war. Sascha aber kam aus dem wirklichen New York. In dieser Stadt waren die Viertel streng nach ethnischer Herkunft aufgeteilt und das Territorium jedes Viertels wurde von magischen Straßenbanden verteidigt. Die Lower East Side war jüdisch, dort konnte nur Fuß fassen, wer vorher eine Absprache mit Magic, Inc., dem jüdischen Verbrechersyndikat, getroffen hatte. Chinatown stand unter der Kontrolle konfuzianischer Zauberer und Unsterblicher. In Little Italy hatten die
Streganonnas
das Sagen. Und Hell’s Kitchen war das Revier der härtesten irischen Straßenbande, der
Hell’s Kitchen Hexer
.
»Worauf warten wir noch?« Lily warf den Kopf zurück und marschierte los, ohne Sascha auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen. Offenbar erwartete sie, dass er ihr wie ein Schoßhündchen folgen würde. Er stieß einen halblauten Fluch über arrogante Mädchen aus, aber eigentlich blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr hinterherzulaufen.
Doch schon nach ein paar Häuserblocks war Saschas Zorn verraucht und einem amüsierten Staunen gewichen. Entweder kannte Lily Astral die Bedeutung des Wortes Furcht nicht oder sie war nie zuvor auf einem New Yorker Bürgersteig unterwegs gewesen. Solange sie sich im Kielwasser von Inquisitor Wolfs wehenden Rockschößen bewegt hatten, schien sie ihm ganz unauffällig gewesen zu sein. Aber jetzt, da sie auf eigene Faust losmarschierte, bedeutete sie eine Gefahr für die Allgemeinheit.
Sie ging mitten auf dem Bürgersteig, als ob es ihr eigener Grund und Boden wäre, und setzte stillschweigend voraus, dass alle anderen auswichen und ihr Platz machten. Das Verrückte dabei war, dass sich tatsächlich die meisten daran hielten. Sobald die anderen Leute sie kommen sahen, änderten sie ihren Kurs wie kleine Boote, die Platz für den Luxusdampfer machten.
Der Haken daran war freilich, dass nicht alle Lily kommen sehen konnten. Sascha zuckte immer wieder zusammen, während sie von einem Beinahezusammenstoß zum nächsten segelte. Eilige Botenjungen, ein Gehilfe, der unter mehreren Ballen Tuch daherwankte, ein Handwerker, der einen mit mehreren Metallaktenschränken beladenen Karren vor sich herschob …
Doch Lily entging das in fröhlichem Leichtsinn. Was ihr nicht entging, waren Näschereien jeder Art. Sie erlaubte sich blitzartige Richtungswechsel, sobald Essbares in Auslagen oder auf Verkaufskarren in Sicht kam. Da ihr das meiste sofort Appetit machte und da sie über reichlich Taschengeld verfügte, ging es bald nicht mehr so rasch voran. Und Sascha musste obendrein dankend ablehnen,
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