Der Seelenfänger (German Edition)
Lily, die sich als Erste traute, Wolf nach dem Ziel der Droschkenfahrt zu fragen.
Statt einer Antwort sah er sie nur lange an. Die bloße Erwähnung des
White Lotus
hatte Wolf in eine träumerische Stimmung versetzt, aus der er nicht so leicht wieder herausfand.
»Was wisst ihr über die Unsterblichen von Chinatown?«, fragte er schließlich.
»Sie sind die Drahtzieher hinter allen magischen Verbrechen in Chinatown«, antwortete Lily wie aus der Pistole geschossen. »Sie organisieren die
Tongs
– das ist das chinesische Wort für Straßenbanden – und ihr Wort ist Gesetz. Sie dulden keinen Widerspruch und verfolgen Abweichler mit aller Härte.« So wie sie redete, hätte sie auch aus einem Groschenroman vorlesen können. »Was noch … Moment. Ach ja, richtig. Sie verfügen über ein unterirdisches Tunnelsystem, durch das ganz Chinatown miteinander verbunden ist und das Eingänge in der ganzen Stadt hat, so ähnlich wie die U-Bahn. Auf diese Weise können sie überall plötzlich auftauchen und ohne Warnung ihr tödliches Unwesen treiben.«
»Den Opiumschmuggel und den Mädchenhandel nicht zu vergessen«, setzte Wolf noch hinzu. Sascha meinte, dass sogar Lily den sarkastischen Unterton in Wolfs Stimme bemerken musste. Doch zu seiner Verwunderung entging ihr diese Nuance völlig. Offenbar hatte Lily Astral zu Hause nur selten Gelegenheit, ihren Sinn für Humor anzuwenden. Daher war er nur schwach ausgebildet, wie ein Muskel, der nicht genug betätigt wird.
»Richtig«, korrigierte sich Lily, die immer noch nichts begriffen hatte. »Davon habe ich auch gehört. Es ist mir nur gerade entfallen. Gibt es noch mehr, was ich wissen sollte?«
»Eigentlich«, sagte Wolf, »ist es für euch besser, nicht so viel zu wissen. Die Unsterblichen haben jedenfalls nichts mit den Tongs zu tun. Und sie üben keine Macht über andere aus, und schon gar nicht durch Furcht.«
»Aber sie sind doch Zauberer.« Lily ließ nicht locker.
Wenigstens schien es Sascha so. Tief in seinem Innern war er ein bisschen neidisch. Woher hatte dieses Mädchen bloß den Schneid, so mit Wolf zu reden? Vermutlich lag es daran, dass ihr Vater reich wie Krösus war und dass sie bei den Roosevelts und den Vanderbilks ein und aus ging.
»Ja«, bestätigte Wolf. »Sie sind die mächtigsten Zauberer hier.«
»Und warum verhaften die Inquisitoren sie dann nicht?«
»Zauberer zu sein ist kein Verbrechen«, entgegnete Wolf, »genauso wenig, wie es ein Verbrechen ist, Kabbalist oder Druide … oder eine altmodische Hexe aus Neuengland zu sein.«
»Was ist dann überhaupt ein Verbrechen?«, wollte Lily wissen.
Wolf lachte verlegen. »Da bewegen wir uns in einer Grauzone. Vor hundert Jahren gab es in ganz Neuengland Hexen und Hexer. Sie machten Läden auf und verfügten über eine zahlende Kundschaft. Ja, sie schalteten sogar Anzeigen in Zeitungen. Die Inquisitoren verhielten sich damals eher wie Verkehrspolizisten und nicht wie Hexenjäger. Sie gaben nur darauf acht, dass nicht betrogen wurde. Aber dann machten die Banker und Großindustriellen mit ihren Eisenbahnlinien und Textilfabriken Magie zu einem Riesengeschäft. Die kleinen freischaffenden Hexen und Hexer wurden an die Wand gedrückt. Und dann … Aber das ist Politik.« Er brach plötzlich ab, offenbar hatte er schon zu viel gesagt. »Und ihr beiden seid noch zu jung, um euch über Politik Gedanken zu machen.«
Doch wenn Lily einmal ein Thema gefunden hatte, ließ sie sich nicht abwimmeln. »Aber das ist ja …«
»Lächerlich?«, stichelte Wolf.
»Ja, wirklich! Sie sprechen von den Großindustriellen, als ob sie alle Zauberer wären. Dabei sind auch ehrliche Geschäftsleute darunter.«
»Gewiss, gewiss.« Wolf schien um jeden Preis das Thema wechseln zu wollen.
»Nehmen wir zum Beispiel meinen Vater …«
»Ich wollte keinesfalls ein Urteil über Ihren Vater fällen!«
Sascha hatte das Gefühl, als wäre die Temperatur in der Droschke binnen sechzig Sekunden um zehn Grad gefallen. Doch Lily hatte sich so in Rage geredet, dass sie nichts bemerkte.
»Kein achtbarer Bürger greift heutzutage auf Magie zurück, Inquisitor Wolf. Das war früher anders. Meine Mutter erzählt, als sie noch klein war, hätten alle Mädchen aus den besten Familien in Neuengland neben Zeichen- und Tanzunterricht auch Lektionen in Zauberei erhalten. Aber heutzutage benutzen echte Amerikaner keine Zauberei mehr. Höchstens Iren oder Italiener oder … na, Sie wissen schon …, solche Leute eben. Das stimmt doch,
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