Der Seelenfänger (German Edition)
gesehen hatte. Sascha hielt es für einen Jungen, da es Hosen trug, aber ganz sicher war er sich nicht. Bei genauerem Hinsehen wusste er nicht einmal, ob es ein Chinese war oder nicht. Haar und Augen passten, aber einen Chinesen mit Sommersprossen hatte Sascha noch nie gesehen. Der Junge schien Wolf zu kennen. Freundlich lächelnd ließ er alle drei eintreten, dann verschwand er im Schatten und überließ sie ihrem Schicksal.
Wolf führte sie durch einen schummerigen Gang in einen höhlenartigen Raum, in dem es angenehm nach feuchten Steinen und Seifenwasser roch. Ringsum lief eine Empore, die auf Säulen ruhte. Die Säulen waren aus ganzen Baumstämmen geschnitzt und von der Berührung vieler Hände geglättet. Die hohe Decke wurde von mächtigen Balken getragen, und der Fußboden bestand aus Steinplatten, die noch größer waren als die auf den New Yorker Bürgersteigen. Die Atmosphäre war fast so feierlich wie in einer Kirche, trotz des leisen Kinderlachens und des Geräuschs herumlaufender Schritte, die aus den benachbarten Räumen herüberwehten. Und es knisterte vor Magie. Diese Magie war so groß und unermesslich wie das Meer und hatte ihren Ursprung in einer viel älteren Stadt als das New York, das Sascha kannte.
Für den Augenblick war außer ihnen nur eine lebende Seele in dem großen Raum, nämlich eine zierliche Chinesin, die neben einem Wassereimer kniete und mit Bürste und Seifenwasser den Steinboden schrubbte. Wolf warf einen scheuen Blick auf sie und schritt, die frisch geschrubbten Steinplatten meidend, am Rand entlang bis zu einem Sack mit Reis. Auf den setzte er sich und holte seine Zeitung hervor. Offenbar machte er sich auf eine längere Wartezeit gefasst.
Sascha setzte sich neben Wolf, er wäre froh gewesen, auch eine Zeitung bei sich zu haben.
Unterdessen schrubbte die Reinemachefrau weiter den Boden. Sie nahm ihre Aufgabe ernst und arbeitete mit Plan und Vorsatz wie ein Bäcker, der seinen Teig knetet, oder ein Maler, der seine Leinwand vorbereitet. Oder, dachte Sascha, wie ein Schammes, der die Synagoge für einen hohen Feiertag putzt. Was war das hier bloß für ein Ort?
Sascha wandte sich Wolf zu und wollte ihn danach fragen, aber auch Wolf war in den Anblick der Frau versunken. Er hatte die Zeitung sinken lassen und betrachtete die Frau mit Augen, in denen selbst ein dreizehnjähriger Junge deutlich den Ausdruck unerwiderter Liebe erkannte. Sascha schielte zu Lily hinüber, er wollte wissen, ob sie etwas bemerkt hatte. Und tatsächlich, auf ihrem Gesicht lag dieser schwärmerische Ausdruck, den Mädchen immer bekommen, wenn Liebe in der Luft liegt. Sascha wollte sie am liebsten schütteln, weil sie wie ein albernes Mädchen vor sich hin träumte, statt sich die drängende Frage vorzulegen, warum sich der berühmteste Inquisitor der New Yorker Polizei ausgerechnet in eine chinesische Reinemachefrau verliebt hatte.
Schließlich nahm die Frau Bürste und Eimer an sich und huschte davon. Nun waren die drei allein im Raum.
Sascha hielt es nicht länger aus. »Holt sie jetzt ihre Herrschaft?«, fragte er.
Wolf lächelte leise. »Nein, das nicht.«
Als sie nach ein paar Minuten zurückkam, trug sie ein Lacktablett mit einem Teeservice. Sie schenkte Tee ein und teilte Gebäck aus. Dann nahm sie gegenüber Wolf Platz, woraus klar ersichtlich wurde, dass sie keine Bedienstete sein konnte. Wolf stellte sie dann auch als Shen Yunying, die Besitzerin der Schule, vor.
»Wie es aussieht«, sagte Shen nach dem Bekanntmachen, »kommt der Schüler in seine alte Schule zurück und bringt gleich Kinder mit. Meinen Sie nicht, Max, dass es in meinem Leben genug Kinder gibt, um die ich mich zu kümmern habe?«
Wolf murmelte etwas, das wie eine Entschuldigung klang. Statt seinen Satz zu beenden, nestelte er am Hemdkragen, als wäre ihm der plötzlich zu eng geworden. »Ich hatte gehofft, Sie könnten ihnen vielleicht Unterricht geben.«
Ihre dunklen Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Ich soll zwei Lehrlinge der Inquisitorenabteilung unterrichten? Wie kommen Sie auf die Idee, dass ich mich dazu bereit erklären könnte? Oder meinen Sie, dass ich Ihnen noch etwas schuldig bin?«
»Aber nein!«, versetzte Wolf, der sichtlich um Beherrschung rang. Dennoch fuhr er in erregtem Tonfall fort. »Sie schulden mir rein gar nichts. Ich dachte nur, na ja, schließlich haben Sie auch Payton Stunden gegeben.«
»Bei Payton war es etwas anderes. Er wird niemals Inquisitor werden.«
»Er ist einer, nur nicht
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