Der Seelenfänger (German Edition)
Erstaunen wuchs noch, als er sah, dass zu der starken Hand tadellos gebügelte Manschetten und ein eleganter Nadelstreifenanzug gehörten. »Payton!«, keuchte er. »Was …«
»Wenn’s dir nichts ausmacht«, entgegnete Payton kühl, »spare ich mir die Erklärung für später. Ich habe gerade alle Hände voll zu tun.«
Was in den nächsten Sekunden geschah, ging so schnell, dass Sascha nur einen ungefähren Eindruck von fliegenden Fäusten und scharrenden Füßen mitbekam. Nachdem sich der Staub gelegt hatte, suchten die Hexer das Weite, während Payton sich die Hosen abbürstete und den Anzug auf Schäden inspizierte.
Einen Schritt von Sascha entfernt saß Lily auf dem Boden und leckte sich eine böse Wunde auf dem Handrücken. Sie starrte Payton mit einem fast ehrfurchtsvollen Ausdruck an.
»Donnerwetter!«, begeisterte sie sich. »Das war besser als eine Geschichte aus
Boys Weekly
! Was war das, Judo?«
»Kung-Fu.«
»Kann ich das auch lernen?«
»Oh, das sollten Sie sogar, Miss Lily, wenn Sie planen, die
Hell’s Kitchen Hexer
regelmäßig zu beleidigen.«
Die Hexer waren unterdessen in der nächsten Seitengasse verschwunden, alle bis auf Paddy Doyle, der Payton mit unverhohlener Feindseligkeit anschaute. »Hallo,
Philip
«, sagte er. Es klang, als wäre das ein Mädchenname oder Schlimmeres.
»Hallo, Paddy. Du kannst gleich mit uns aufs Revier kommen. Oder sollen die Inquisitoren bei deiner Mutter vorbeischauen?«
»Lass meine Mutter aus dem Spiel! Die hat schon genug Sorgen.«
»Das hättest du dir vorher überlegen sollen, statt ihr noch mehr zu machen.«
»Wir können nicht alle solche Musterknaben sein wie du, Philip.«
»Ach Paddy! Du hast doch Grips. Was hilft es deiner Mutter, wenn du am Ende wie deine Brüder im Gefängnis landest?«
Aber Paddy ließ sich nicht belehren. »Wolf weiß, wo er mich finden kann«, sagte er mit lässigem Achselzucken. »Er kann jederzeit mit mir im Witch’s Brew reden. Aber er soll allein kommen, Sullivan duldet keine Schoßhündchen in seinem Lokal!«
Payton machte Miene, Paddys Beleidigung ebenso scharf zu erwidern, doch dann wandte er sich nur ab und ging wortlos davon.
»Ist das der Paddy Doyle aus der Aufnahmeprüfung?«, fragte Sascha, als er Payton endlich eingeholt hatte. »Der mit dem verlorenen Schwein?«
»Das war nicht sein Schwein«, erwiderte Payton wütend. »Das könnte er sich gar nicht leisten, dieser arme Schlucker, deshalb beklaut er ja Leute, die einer ehrlichen Arbeit nachgehen.«
»Wie, Sie kennen ihn?«, fragte Lily erstaunt.
»Früher schon«, erwiderte Payton verbittert. »Wir waren mal gute Freunde.«
»Oje, das heißt dann wohl, es gibt keinen Kaffee?«, fragte Wolf seufzend, als er ihre schmutzige Kleidung und die zerkratzten Gesichter sah.
»Wie?«, empörte sich Lily. »Erst schicken Sie dieses arme Kind in eine üble Gegend, wo es von einer Straßenbande zusammengeschlagen wird, und jetzt haben Sie noch die Stirn, nach Ihrem Kaffee zu fragen?«
»Ich bin kein Kind mehr!«, protestierte Sascha. »Ich bin genauso alt wie du. Und überhaupt, warum reden alle über mich, als ob ich gar nicht da wäre?«
Lily wischte Saschas Protest mit einer Handbewegung beiseite. »Schauen Sie nur, was die mit ihm gemacht haben. Wollen Sie denn gar nichts tun?«
»Ich werde sogar mehrere Dinge veranlassen. Als Erstes beauftrage ich Payton, den Namen der armen Frau zu ermitteln, der ihr eine Fensterscheibe zerschlagen habt, um ihr anzubieten, es reparieren zu lassen. Bedauerlicherweise habt ihr versäumt, sie nach Namen und Wohnungsnummer zu fragen. Das hätte mir viele Umstände erspart. Nun gut, wir werden das alles noch regeln. Offenbar wird es aber Zeit, dem
White Lotus
, einer Tanz- und Anstandsschule für höhere Töchter, einen Besuch abzustatten.«
»Wie bitte?«, fragte Sascha entgeistert.
Doch Wolf hörte gar nicht mehr zu. Er drängte sie schon eilig nach draußen, und dort schob er sie in eine Droschke, die, wie immer, wenn er eine brauchte, aus dem Nichts aufgetaucht war. Er rief dem Kutscher eine Adresse zu und schaute dann Sascha und Lily an. Schien es Sascha nur so oder waren seine gewöhnlich bleichen Wangen tatsächlich vor Aufregung leicht gerötet? Die Vorstellung, dass Wolf erröten könnte, schien undenkbar.
»Wir fahren nach Chinatown«, sagte er. »Und bitte, benehmt euch dort. Ihr werdet es mit einer Königlichen Hoheit zu tun haben.«
14 Die Unsterblichen von Chinatown
Selbstverständlich war es wieder
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