Der Seelenfänger (German Edition)
Inquisitor Wolf? Ich meine …«
Bevor Sascha dazu kam, darüber nachzudenken, ob er Lilys Bemerkung über echte Amerikaner eigentlich beleidigend finden müsste, spürte er plötzlich, dass etwas Unheimliches vor sich ging. Lilys Stimme war im Verlauf ihrer Rede immer angespannter und kratziger geworden und ihr Gesicht hatte einen verstörenden Ausdruck angenommen. Es schien so, als versuche sie, Wolf dazu zu bringen, etwas zu sagen, was sie selber gar nicht hören wollte.
Wolf musste es ebenfalls merken. Er schaute Lily mitleidig an.
»Wie ich schon sagte«, wiederholte er. »Ihr beide seid noch zu jung, um euch über Politik Gedanken zu machen.«
Unterdessen hatte die Droschke den Broadway verlassen und fuhr die Mulberry Street hinunter. Sie waren nun im Herzen von Chinatown. Und obwohl nur ein paar Häuserblocks entfernt von hier Großvater Kesslers Synagoge stand, kannte Sascha diese Straßen kaum. Er betrachtete erstaunt die grell bemalten Ladenfronten, wo Seide, Gewürze und staubige Päckchen mit traditioneller chinesischer Medizin feilgeboten wurden. In einem Laden glaubte er sogar einen ausgestopften weißen Tiger zu erkennen – mit ausgefahrenen Krallen und gefletschten Zähnen.
Die Straßenhändler luden hier ihre Waren nicht auf Marktkarren, sondern jeder trug eine Bambusstange auf den Schultern, an deren beiden Enden große rot lackierte Körbe hingen. Sie sahen aus wie kandierte Äpfel in einer Rummelplatzbude. Und was für Düfte diese Körbe verströmten! Karamell, Curry, gebratene Lackente und tausend andere exotische Genüsse kitzelten die Nase. Sascha schwirrte der Kopf, und ihm knurrte der Magen, als die Droschke schließlich vor einem unscheinbaren Laden für chinesische Medizin hielt und Wolf ausstieg.
Wolf schob seine Lehrlinge in den Laden – und durch die Hintertür gleich wieder hinaus in einen von hohen Mauern umgebenen Hinterhof, wo so viele Wäscheleinen gezogen waren, dass man meinte, unter einem Dach von flatternden weißen Laken und Tüchern zu spazieren. Die ganze Familie des Ladenbesitzers, der sich auch noch eine Schar sehr munterer Hühner hielt, schien hier zu wohnen. Beim Vorbeigehen blickte Sascha durch eine offene Tür und sah sie alle an einem kleinen Tisch sitzen, in dessen Mitte ein kleiner Herd eingebaut schien.
Auf den ersten Innenhof folgte noch ein zweiter. Dort wuchs ein sehr großer Maulbeerbaum, und daneben stand ein kleines altes Männchen, das einen Vogelkäfig mit zwei dicken weißen Mäusen darin in der Hand hielt. Das Männchen führte ihnen eine Pantomime vor: Kinder, begrüßt meine Mäuse; Mäuse, begrüßt die Kinder. Wolf nickte nur höflich und ging gleich weiter. Dann riss er eine schmale eiserne Tür auf, die in eine Besenkammer zu führen schien, trat ein – und verschwand.
Sascha folgte ihm – und fand sich an einem Ort wieder, wie er ihn noch nie zuvor gesehen hatte.
Das Beeindruckende war weniger die Größe des Innenhofes, als vielmehr die Tatsache, dass Sascha zum ersten Mal in seinem Leben keinen Verkehrslärm zu hören vermochte, nicht das leiseste Geräusch von der Straße drang hier hinein. Stattdessen war die Luft erfüllt vom Gezirp der Grillen, vom Tschilpen der Spatzen, und es roch markant nach den alten Kiefern, deren ausladende Äste den Innenhof überspannten. Sascha kam es so vor, als sei er durch ein Zaubertor ins alte China gelangt.
Am anderen Ende des Hofes befand sich ein Tor aus grob gezimmertem, vom Alter ganz dunkel gewordenen Holz. Das Tor und der blockartige Holzbau mit dem Ziegeldach schienen schon seit Jahrhunderten hier zu stehen. Über dem Tor spannte sich ein Seidenbanner mit vier großen, goldenen chinesischen Schriftzeichen darauf.
»Was bedeuten denn die Zeichen?«, fragte Sascha.
Wolf lächelte sein feines Lächeln. »Es bedeutet: ›
Weißer Lotus
, Mädchenschule für Tanz und gutes Benehmen‹. Aber sei unbesorgt. Hier gibt es auch Jungen. Tatsächlich handelt es sich um ein Waisenhaus. Eine Tanzschule war es übrigens nie. Man hat es so genannt, um Ärger mit der Polizei zu vermeiden, denn was hier gelehrt wird, ist verboten. Na, du wirst schon noch sehen.«
Wolf zog an der Klingelschnur neben der schweren Eichentür und ein tiefer Glockenton erklang irgendwo im Innern des Baus. Gleich darauf war das Geräusch von nackten Füßen auf Steinfliesen zu hören und ein Kind öffnete ihnen. Das Kind hatte einen Zopf und trug weiße weite Baumwollhosen, die Sascha auch schon an chinesischen Männern
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