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Der Seelenfänger (German Edition)

Der Seelenfänger (German Edition)

Titel: Der Seelenfänger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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Junge aus der Hester Street einmal wie selbstverständlich einen Zug in Begleitung eines New Yorker Inquisitors und einer Tochter aus den höchsten Kreisen nehmen würde, in der Hand eine Fahrkarte, die mehr kostete als alle Kleider, die er je besessen hatte. Er warf Lily einen Blick zu, doch für sie schien die bevorstehende Zugreise nichts Besonderes zu sein. Also wollte auch er sich nichts anmerken lassen.
    Aber das war ganz unmöglich. Sobald sie den großen lichtdurchfluteten Wartesaal der Grand Central Station betraten, waren sie von technischen Wunderwerken umgeben. Das mächtige Glasdach, das sich über ihnen spannte, stand an technischer Kühnheit dem Pariser Eiffelturm in nichts nach. Nur dass in New York der Fortschritt noch einen Schritt schneller war und die Konstruktion mittlerweile schon wieder als überholt galt und als Gefahr für die Öffentlichkeit deklariert worden war. Bereits seit einigen Jahren war vorgesehen, das Dach abzubrechen. Dass es überhaupt noch in den Himmel ragte, lag an dem Prozess, den Cornelius Vanderbilk und Tammany Hall darüber führten, wer den Löwenanteil der Kommissionen zahlen musste, ohne die der Neubau nicht beginnen konnte.
    Sascha hatte in der Zeitung gelesen, dass Vanderbilk vorhabe, den Bau und die Kommissionen dadurch zu finanzieren, dass er die Bahnlinie unter die Erde verlegen und darüber eine ganz neue Straße bauen lassen wolle. Die neue Straße sollte Park Avenue heißen – wohl damit die Leute vergaßen, dass die neue Verkehrsachse über einer Bahnlinie verlaufen würde –, und ein Heer von Immobilienagenten und Spekulanten rührte schon die Werbetrommel: Kauft, Leute, kauft! Wenn man aber aus dem Zugfenster schaute und die triste Ansammlung von Schlachthöfen und Slums sah – und nichts anderes war die Upper East Side –, dann fragte man sich, ob sich hier jemals wohlhabende Bürger niederlassen würden.
    Bald gab es aber Interessanteres zu sehen. Sie fuhren an den Polo Grounds vorbei, wo die Yankees spielten. Das Morgentraining hatte schon begonnen. Lily drückte neben Sascha die Nase an der Scheibe platt, und beide versuchten, ihren Lieblingsspieler zu entdecken.
    »Du gehst ja wahrscheinlich zu allen Spielen«, sagte Sascha wehmütig.
    »Nur zu langweiligen Polospielen«, sagte Lily und schnob verächtlich durch die Nase. »Meine Mutter ist nämlich dagegen, dass junge Mädchen sich die Partien von Profispielern anschauen.«
    Dann lagen die Polo Grounds hinter ihnen und der Zug verließ am nördlichsten Punkt die Insel Manhattan und glitt auf einer Stelzenbrücke hinüber zum Festland. Anfangs hatte Sascha gedacht, schnell zu fahren, aber jetzt hatte er das Gefühl zu fliegen. Sie schossen nur wenige Meter über der funkelnden Wasserfläche des Hudson River dahin. Nun waren sie weiter im Norden, als Sascha jemals in seinem Leben gekommen war. Er dachte daran, dass die Hausfrauen aus der Hester Street die Bowery »Amerika« nannten, obwohl die nur ein paar Häuserblocks entfernt war. Aber was er jetzt sah, das war wirklich Amerika, und ein Ende war nicht abzusehen. So viel Wasser, so viele Felsen und so viel Himmel, vor dessen blauer Unermesslichkeit die Schwärme von Möwen ganz verloren wirkten.
    Wolf berührte ihn an der Schulter. »Schaut euch das mal an.«
    Er holte einen dicken Stapel Papiere und Blaupausen aus der Tasche. Die Fingerspitzen fleckig von der frischen Tinte, breitete er die Blätter auf der Sitzbank aus, damit Sascha und Lily sie sehen konnten.
    Es handelte sich um Kopien aus dem Patentamt, Reproduktionen der Originalzeichnungen, die Thomas Worley zur Anmeldung eines Patents auf seinen Seelenfänger eingereicht hatte. Die Maschine, die hier über viele Seiten in präzisen Zeichnungen dargestellt wurde, entsprach in fast allen Punkten Edisons Ätherographen.
    »Heißt das, Edison hat seinen Ätherographen von Worley geklaut?«, fragte Lily.
    »Nicht geklaut, gekauft.«
    »Sollte er ihm dann nicht vertrauen? Und warum hat er das getan? Nur damit er sagen kann, dass es seine Idee war und die Leute ihn für einen großen Erfinder halten?«
    Wolf zuckte die Schultern. »Vielleicht. Vielleicht gibt es auch einen Unterschied zwischen den beiden Maschinen, den wir noch gar nicht erkannt haben. Deswegen muss ich mit Worley sprechen.«
    Wolf räumte die Blaupausen wieder weg. Er machte ein nachdenkliches Gesicht und sprach für den Rest der Bahnfahrt nicht mehr. Er hatte einen ganzen Stapel Morgenzeitungen dabei, die er nun eine nach der

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