Der Seelenfänger (German Edition)
anderen las, mal mit hochgezogenen Augenbrauen, mal mit einem amüsierten Grunzen. Lily kuschelte sich in ihre Ecke des Abteils und schlief bald ein. Und Sascha konnte nach Herzenslust aus dem Fenster schauen.
Er konnte sich gar nicht daran sattsehen, wie grün hier alles war und wie sich die Wälder nach allen Richtungen bis zum Horizont ausdehnten. Auch hier mussten Menschen leben, aber außer einer Landstraße hier und da oder einem Kirchturm in der Ferne gab es keine Hinweise auf Zivilisation. Wie konnte es auf der Welt nur so viel freien Raum geben? Und dabei handelte es sich hier nur um eine Ecke des Bundesstaates New York, der wiederum nur ein kleiner Teil der Vereinigten Staaten von Amerika war. Warum regten sich die Leute dann so sehr über Einwanderer auf? Sascha schien es, als könnte man ganz Italien, Irland und Russland im Tal des Hudson unterbringen, ohne dass irgendjemand einen Unterschied bemerken würde.
Aber selbstverständlich war nicht fehlender Raum der Grund, weshalb so viele Amerikaner auf Einwanderer nicht gut zu sprechen waren. Und auch der Anblick der schönen Landschaft hielt Sascha nicht davon ab, an den Dibbuk zu denken. Was würde Inquisitor Wolf tun, wenn er ihm davon erzählte? Würde er ihm helfen? Könnte er es überhaupt? Oder würde die Polizei jeden Kessler, den sie erwischte, festnehmen und, um Schuldige von Unschuldigen zu scheiden, vor eine Jury aus »echten« Amerikanern stellen?
Lily wachte gerade auf, als der Zug an den düsteren grauen Mauern des Staatsgefängnisses von Sing-Sing vorbeifuhr. Sofort stellte sie Wolf allerhand alberne Fragen: Ob er mit seinem Dienstausweis dort Zugang bekomme? (Ja.) Wie viele Verbrecher auf sein Betreiben dort hingekommen waren? (Zu viele.) Waren einige davon auf dem elektrischen Stuhl, den Thomas Edison erfunden hatte, hingerichtet worden? (Er bestätigte das nicht.)
Sascha blickte an den mit Stacheldraht bewehrten und mit Wachtürmen versehenen Mauern hinauf und schauderte. Sollte Wolfs Ermittlung eine unglückliche Wendung nehmen, könnte sein Großvater an diesem schrecklichen Ort enden. In ihm stieg Panik auf, die Brust wurde ihm eng. Er betete, dass Wolf ihn jetzt nicht anschaute, denn ihm war, als müsse ihm die Schuld ins Gesicht geschrieben stehen.
Zum Glück war Wolf so damit beschäftigt, Lilys endlose Fragen zu beantworten, dass er nicht bemerkte, was mit Sascha los war. Und als sie in den Pendlerbahnhof von Ossining einfuhren, hatte sich Sascha mehr oder weniger wieder gefangen.
Die drei streckten die steifen Glieder, dann machten sie sich unverzüglich auf den Weg, der vom Fluss einen steilen Abhang hinauf zur Stadt führte. Auf Sascha wirkte Ossining eher wie ein großer Park als wie ein Ort, an dem Menschen wohnten. Mächtige Ulmen und Kastanienbäume warfen ihre Schatten auf das allgegenwärtige Grün des Grases. Die wenigen Häuser hier und da schienen in zarten Pastelltönen in die Landschaft getupft zu sein und machten keinen wetterfesten Eindruck.
Das Haus der Worleys war ein genauso eleganter, anmutiger Bau wie die anderen Häuser in der beschaulichen Straße. Allerdings konnte bei den Worleys von Beschaulichkeit keine Rede sein, denn auf dem Rasen türmten sich Möbel, Bücher, Kochgeschirr, Bettwäsche, kurz alles, was zur Ausstattung des Hauses gehörte.
Saschas erster Gedanke war, dass die Worleys die Miete nicht mehr bezahlen konnten und deshalb vom Hauseigentümer auf die Straße gesetzt worden waren. Das hatte er in der Hester Street schon oft genug miterlebt. Er konnte aber kaum glauben, dass so etwas auch in dieser Gegend geschehen sollte. Und wenn es doch so gewesen wäre, hätten eigentlich die Kinder der Familie Worley auf den Möbeln sitzen und sie gegen Fledderer verteidigen müssen, während ihre Eltern von Tür zu Tür gingen, um eine neue, billigere Wohnung zu finden.
Statt Kindern drängten sich im Garten der Worleys nur Männer in Anzügen, die mit kalten Augen Möbel und Hausrat taxierten. Und tatsächlich, kaum hatte Wolf den Weg zum Haus betreten, da kam auch schon ein schwitzender untersetzter Herr mit Schweinsaugen herbei, drückte ihm eine Preistafel in die Hand und bat ihn, sich zu beeilen, denn die Auktion werde in acht Minuten beginnen.
»Welche Auktion?«, fragte Wolf.
»Der Verkauf durch die Gläubiger, was sonst?«
»Verstehe. Dann hat Mr Worley wohl Insolvenz angemeldet?«
»Mr Worley hat gar nichts angemeldet. Er ist vergangene Woche von einer Brücke gesprungen. Seine Witwe
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