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Der Seelenfänger (German Edition)

Der Seelenfänger (German Edition)

Titel: Der Seelenfänger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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sein.
    Eine heiße Welle ging durch Sascha, seine Wangen röteten sich und sein Herz klopfte. Was er fühlte war Zorn, Zorn über das Unglück von Menschen, die er gar nicht kannte. Und obwohl er dadurch Mr Worley nicht wieder lebendig machen konnte, wollte er die Männer bestraft sehen, die den Erfinder in den Selbstmord getrieben hatten.
    Seit wann war er so streng? Dachte er schon wie ein Inquisitor und nicht mehr wie jeder normale Mensch? Onkel Mordechai würde wohl sagen, er sei auf dem Weg, ein Werkzeug der Hochmagie zu werden.
    »Und was werden Sie jetzt tun?«, fragte Wolf. Sascha zwang sich, wieder dem Gespräch zu folgen.
    »Ich weiß noch nicht so recht«, schluchzte Mary. »Vielleicht gehe ich zurück zu meiner Schwester in die Slumsiedlung und suche nach einer anderen Arbeit.«
    »Ich meinte, was wollen Sie unternehmen, damit die Männer, die Mr und Mrs Worley in den Ruin getrieben haben, bestraft werden?«
    Sie schüttelte nur resigniert den Kopf. »Diese Männer sind viel zu reich, um bestraft zu werden.«
    »Mag sein. Aber solange ich sie nicht gefunden habe, kann ich sie nicht vor Gericht bringen. Und ich kann auch nichts tun, damit Mrs Worley ihr Geld zurückbekommt.«
    »Könnten Sie denn das?«, fragte Mary, als ob er ein Wunder versprochen hätte.
    »Wahrscheinlich nicht«, gab Wolf zu. »Aber wie gesagt, solange ich die Männer nicht gefunden habe, kann ich es nicht einmal versuchen.«
    Mary hatte die ganze Zeit über nervös ihr Taschentuch geknetet. Nun kaute sie auf ihren Lippen herum und schien mit einer Entscheidung zu ringen. Schließlich ging sie ans Küchenbüfett und kramte in einer Blechkiste mit Rezeptkarten, bis sie eine bestimmte gefunden hatte.
    »Sie müssen wissen, dass ich das eigentlich niemand sagen darf«, warnte sie Wolf. »Mrs Worley wird bestimmt wütend auf mich sein. Vielleicht redet sie gar nicht mit Ihnen!«
    »Seien Sie unbesorgt«, beruhigte sie Wolf und schenkte ihr wieder sein charmantes Lächeln. »Es wäre nicht das erste Mal, dass man mir die Tür vor der Nase zuschlägt.«
    Sie stand vor ihm, die Rezeptkarte an die Brust gedrückt, unschlüssig, ob sie ihm die Karte nun geben sollte oder nicht. Dann reichte sie sie ihm hastig wie eine heiße Kartoffel.
    Sascha reckte den Hals, um über Wolfs Schulter zu schauen. Es war ein Rezept für einen Kuchen, dem eine gewisse Sally Lunn den Namen gegeben hatte. Wolf drehte die Karte und las die rasch hingekritzelte Adresse auf der Rückseite. Erstaunt blickte er auf.
    »Mrs Worley wohnt jetzt in der Bowery?«

19   Mrs Worleys Seelenfänger
    In New York dämmerte schon der Abend, als sie aus dem Zug stiegen und dem Strom der Feierabendmenge die eisernen Treppen hinunter zur Bowery folgten. Die Straßenlaternen waren gerade angegangen, und das gleißend helle Licht der Bogenlampen tat den Augen weh, wenn man hineinschaute. Der Broadway machte mittlerweile der Bowery zunehmend den Rang streitig. Doch obgleich die führenden Theater und die schicken Freiluftrestaurants nun am Broadway lagen, war die Bowery nach wie vor das Ziel, das die gewöhnlichen New Yorker aufsuchten, wenn es Abend wurde und sie im elektrischen Licht umherspazieren und sich zerstreuen wollten.
    Unten auf dem Bürgersteig angekommen, nahm Wolf Lily und Sascha an den Armen, um sie durch das Verkehrsgewühl aus Karren, Kutschen und Omnibussen sicher über die Straße zu geleiten. Und da geschah es.
    Wolf ließ die Arme seiner Schützlinge los und sprang allein mitten auf die Straße – geradewegs vor eine sich nähernde Pferdebahn. Schon sah es so aus, als würde Wolf unter die Hufe der Pferde geraten, da bückte er sich wie ein Baseballspieler, der einen tiefen Ball erwischen will, hob ein dunkles Etwas vom Straßenpflaster auf und warf es mit aller Kraft in die Luft.
    Ein Knäuel aus weißen und dunkelbraunen Federn stob nur wenige Zoll vor den scheuenden Pferden in die Höhe und nahm dann rasante Fahrt auf. Einen Augenblick lang war Sascha sicher, dass der Mauersegler gegen das Metalldach der Pferdebahn prallen und leblos zu Boden fallen würde. Doch im buchstäblich letzten Augenblick bekam der Vogel noch die Kurve und flog davon. Im grellen elektrischen Licht glitt kurz sein Schatten über das Pflaster, dann war er endgültig verschwunden.
    »Ein notgelandeter Mauersegler«, sagte Wolf, als er zu den beiden Kindern auf den Bürgersteig zurückkehrte. »Diese Vögel sind die elegantesten Flieger. Sie verbringen fast ihr ganzes Leben in der Luft und

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