Der Seelenfänger (German Edition)
diejenige, die sich nur schwer entschließen konnte, mich zum Tee einzuladen!«
Lily verdrehte die Augen. »Ich wusste, dass du grob bist, aber jetzt bist du auch noch dumm!«
»Ach, ich bin dumm? Und was machst du? Du nimmst eine Stelle an, obwohl es dir peinlich ist, die Leute, mit denen du arbeitest, deiner Mutter vorzustellen.«
Er wartete darauf, dass Lily ihm das mit gleicher Münze heimzahlen würde, aber stattdessen starrte sie ihn nur mit offenem Mund an. »Moment mal, du meinst, es wäre mir peinlich gewesen, dich meiner Mutter vorzustellen?«
Ehe er richtig verstanden hatte, was sie mit dieser Frage meinte, hatte sie ihn schon bei der Hand genommen und vor ein eingerahmtes Bild geschleppt. »Willst du wissen, was meine Mutter für ein Mensch ist? Dann schau dir das da mal an!«
Das Bild, eine Radierung, zeigte zwei Frauen, die sich in einem Ballsaal die Hand gaben. Beide waren strahlende Schönheiten und eine sah aus wie Maleficia Astral. Die Frauen lächelten sich an, als wären sie die besten Freundinnen – aber jede verbarg eine langstielige Axt in den Falten ihres Ballkleides.
Die Bildunterschrift lautete: »Die amtierende Schönheitskönigin begrüßt ihre neueste Rivalin«.
»So ist meine Mutter«, sagte Lily. »Und schlimmer noch, sie ist auch noch stolz darauf. So stolz, dass sie dieses Bild hier aufhängt und darüber lacht. Ihr Lebenszweck besteht darin, in der New Yorker Gesellschaft den Ton anzugeben. Ihr geht es nur darum, reich und schön zu sein und andere herumzukommandieren. Sie nimmt sich nicht einmal Zeit für die eigene Tochter, es sei denn, sie kann sich damit vor ihren reichen Freundinnen hervortun. So, und nun verrate mir mal, Sascha Kessler, warum sie ihre Zeit ausgerechnet mit dir verschwenden sollte?«
Sascha wollte ihre Beleidigung schon erwidern, da sah er etwas in ihrer Miene, das ihn allen Zorn vergessen ließ. Lily hatte ihn nicht aus Vornehmtuerei durch die Hintertür eingeschmuggelt, sondern aus Scham. Lily Astral schämte sich für ihre Mutter. So sehr schämte sie sich, dass sie eine Begegnung zwischen Sascha und ihrer Mutter um jeden Preis verhindern wollte, genauso wie auch Sascha vor Lily verheimlichen wollte, dass er in einer Mietskaserne in der Hester Street wohnte.
Und nun beschlich ihn ein Gedanke: Er schämte sich nicht für seine Eltern. Jetzt, da die schöne Maleficia Astral nicht mehr in der Nähe war, erkannte er, dass ihr bezauberndes Geplauder größtenteils aus boshafter Tratschlust entstanden war. Saschas schwer arbeitender Vater hingegen besaß eine Würde, an die Mrs Astral mit all ihrem Geld und ihren Juwelen nicht heranreichte. Und Saschas Mutter, nun, das Peinlichste, was sie tun könnte, war, Lily bei der ersten Begegnung dick machendes Gebäck aufzudrängen und laut zu schreien, wie dünn das arme Mädchen doch sei. Wenn Lily also so viel Mut besaß, Sascha mit ihrer Mutter bekannt zu machen, für die sie sich so schämte, dann könnte er eigentlich auch so viel Mut aufbringen, ihr zu verraten, dass er in einer Mietskaserne wohnte.
Und dennoch konnte er es nicht. Tatsächlich machte der Umstand, dass er nun wusste, was Lily für ihre Mutter fühlte, die Sache noch schwieriger. Und er wusste auch, warum, ob er es sich nun eingestand oder nicht: Lily würde die Kesslers nicht verachten, weil sie arm waren. Statt sie zu verachten, würde sie etwas Schlimmeres tun, sie würde Mitleid mit ihnen haben. Und als Nächstes würde sie ihnen helfen wollen. Aber Lily Astrals Almosen waren das Letzte, was sich Sascha auf Erden wünschte.
18 Stromaufwärts
Wolfs Nachforschungen auf dem Patentamt mussten sich ausgezahlt haben, denn wenige Tage später erhielt er durch einen Eilboten eine umfangreiche Sendung aus Washington. Er verschwand damit sofort in seinem Büro und ordnete wenig später ohne weitere Umstände an, sie müssten sofort zu Mr Worley nach Ossining aufbrechen.
»Ossining?«, sagte Lily mit Raubtierblick. »Sie meinen, man hat ihn schon stromaufwärts geschickt? Besuchen wir ihn im dortigen Knast?«
»Tut mir leid, ich muss euch enttäuschen«, sagte Wolf. »Er wohnt dort nur, wie übrigens viele andere ganz rechtschaffene Bürger.«
»Das ist aber dumm von ihnen!«
»So ist es nun mal.« Wolf sah auf seine Uhr. »Wenn wir gleich losgehen, bekommen wir noch den Zug um ein Uhr zwanzig.«
Während Sascha mit Wolf und Lily zum Bahnhof eilte, konnte er sich nicht genug über sein neues Leben wundern. Wer hätte gedacht, dass ein
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