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Der Seelenfänger (German Edition)

Der Seelenfänger (German Edition)

Titel: Der Seelenfänger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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Schattengestalt kleiner als Mordechai zu sein, und sie war nicht durch die Tür, sondern über die Feuertreppe durch das offene Fenster gekommen.
    Mit pochendem Herzen beobachtete Sascha, wie die Gestalt durch das Zimmer tappte. Offenbar suchte sie etwas. Sie machte sich an den Haken zu schaffen, wo die spärliche Garderobe der Familie hing. Sie schien sich mehr auf ihre Nase als auf ihre Augen zu verlassen und schnüffelte wie ein Hund an den aufgehängten Kleidungsstücken. Dann nahm sie etwas vom Haken, vielleicht ein Hemd. Sascha konnte es nicht genau erkennen und hatte zu große Angst, den Kopf zu heben, um mehr zu sehen. Darauf kehrte der Eindringling zum Fenster zurück.
    Auf halbem Weg blieb er wieder stehen, als wüsste er nicht, was er als Nächstes tun sollte. Dann steuerte er auf Saschas Bett zu.
    Jetzt starrte die Gestalt Sascha direkt an. Er schloss die Augen und zwang sich, langsamer zu atmen, damit sein Atem im gleichen Rhythmus ging wie bei den anderen Familienmitgliedern rechts und links von ihm.
    Stille.
    Dann näherten sich seinem Bett gedämpfte Schritte, blieben stehen, und nun beugte sich der Dibbuk über ihn.
    Sein Atem war kalt, kalt genug, um ein Uhrwerk zum Stillstand zu bringen. Aber noch kälter war sein Finger. So kalt und so herzzerreißend wie der erste Schnee auf dem Grab eines Neugeborenen. Leise, ganz leise fuhr ein Finger über Saschas Wange, berührte sein Haar, verweilte auf der Hand, die auf dem Federbett lag.
    Und dann war er fort.
    Stumm vor Entsetzen und in kalter Panik lag Sascha wach, so lange, bis das erste Tageslicht durch die Fenster dämmerte und seine Mutter, die als Erste aufstand, in der Aschenglut des Küchenherdes stocherte. Er stand ebenfalls auf, wusch sich und kleidete sich mühsam an, die Finger mehr vor Angst als vor Kälte erstarrt. Angespannt beobachtete er, wie die anderen sich anzogen und Hüte und dicke Schals von den Garderobenhaken nahmen. Aber da war er sich schon sicher, dass das einzige Kleidungsstück, das fehlte, von ihm sein musste. Sein zweitbestes Hemd war nicht mehr an seinem Platz.

23   Ein Mann von altem Schrot und Korn
    »Wohin soll es gehen?«, fragte Lily am nächsten Morgen, als Wolf dem Droschkenkutscher die Adresse angab. »Was um alles in der Welt sollen wir auf Long Island ermitteln?«
    »Meinst du, dass es auf Long Island keine Zauberverbrecher gibt?«, fragte Wolf in amüsiertem Ton. »Lass dir gesagt sein, Fräulein, dass die unverschämtesten Gauner der New Yorker Halbwelt ihre Wochenenden im Oyster Bay Country Club verbringen. Aber heute sind wir nicht auf Verbrecherjagd. Heute wollen wir einen Rat, und zwar den Rat des letzten ehrlichen Mannes in New York … oder wenigstens des letzten ehrlichen Mannes, den ich kenne.«
    Als ihre Droschke endlich die ruhige Landstraße über der Oyster Bay verließ und die breite Auffahrt zu einem schindelgedeckten Haus im Schatten mächtiger Eichen und Buchen hinauffuhr, hatte Sascha schon eine klare Vermutung, wer nach Wolfs Ansicht der letzte ehrliche Mann war.
    Die letzten Zweifel waren ausgeräumt, als der Kutscher seinen Gaul zügeln musste, um einer Schar von Pfauen, zwei Irischen Wolfshunden, einem zahmen Schwarzbären und einer Rasselbande von Jungen und Mädchen auf Shetlandponys Platz zu machen. Die Kinder spielten ausgelassen Cowboys und Indianer.
    Zusammen mit den Hunden und einem Shetlandpony begleiteten die Kinder die Besucher bis zu den Stufen der Haustür, die von einem eleganten Portal umrahmt wurde. Wolf wollte schon die Klingel betätigen, als der vielstimmige Protest der Kinder ihn daran hinderte.
    »Nein, warten Sie!«
    »Lassen Sie das Bill machen!«
    »Bill ist besser als jede Klingel!«
    Bill war das Pony, wie sich herausstellte. Mit einem raffinierten Trick und unter viel Gelächter brachten die Kinder Bill so in Stellung vor der Haustür, dass er mit dem eisenbeschlagenen Vorderhuf ein deutliches Rat-atat-tat an die Tür klopfte.
    Die Tür ging auf und heraus trat die unverkennbare Gestalt Teddy Roosevelts.
    »Guter Trick!«, rief er, holte aus seiner Hosentasche ein paar Stücke Würfelzucker und gab sie dem munteren Pony. »Aber eure Mutter würde mir nie verzeihen, wenn ich euch erlaubte, ein Pferd ins Haus zu bringen …, also verratet ihr nichts!«
    Teddy Roosevelt war wohl der berühmteste New Yorker ganz Amerikas und sicherlich der beliebteste. Er stammte aus einer alten untadeligen Patrizierfamilie, was ihm selbstredend einen Platz in Maleficia Astrals

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