Der Seelenfänger (German Edition)
Welt bewunderst du am meisten?«
Sascha hatte sich diese Frage noch nie gestellt, aber er brauchte keine Sekunde zu überlegen, um die Antwort zu wissen: »Meinen Vater!«
»Weshalb?«, bohrte Roosevelt nach.
»Na, weil er immer zuerst an seine Familie denkt. Weil er ehrlich ist. Und weil er mehr arbeitet als alle anderen, die ich kenne.«
Roosevelt schenkte Sascha ein breites Lächeln. »Gratuliere! Werde wie dein Vater und du wirst ein Mann, auf dessen Freundschaft ich stolz wäre.«
Dann wandte er sich an Lily. Die hatte den Wortwechsel aufmerksam verfolgt. Jetzt sah Roosevelt sie mit gebieterischem Ernst an. »Und du, Lily, hast du die gleichen Gefühle für deinen Vater?«
Die Zornesröte, die Lily ins Gesicht stieg, genügte ihm als Antwort.
»Lily Astral, du bist ein gutes Mädchen. Du machst das Beste aus deinem Leben, wenn du den Mut hast, nach deinen eigenen Idealen zu leben. Das wird nicht leicht sein. Aber ich bemitleide dich deswegen nicht, und ich vermute, du würdest es mir auch nicht danken, wenn ich es täte. Du und ich, wir ähneln uns sehr.« Dann zeigte er sein breites Grinsen, das die Karikaturisten so gern übertrieben. »Das war jetzt kein Kompliment. Du brauchst dich also bei mir nicht zu bedanken!«
»Ich … oh!«, stotterte Lily.
Roosevelt wandte sich wieder an Wolf. »Da haben Sie zwei gute Lehrlinge gefunden«, sagte er. »Die müssen Sie behalten.«
24 Ein langer Weg hinab
»Nennen Sie das Mr Morgaunts Name aus der Presse heraushalten?«, rief Polizeipräsident Keegan. Er schäumte vor Wut und fuchtelte mit einem zerknitterten Exemplar der
New York Sun
vor Wolfs Nase herum.
Sie standen wieder in J.P.Morgaunts Bibliothek, Lily und Sascha flankierten Wolf, während der Polizeipräsident ihnen gegenüberstand und Morgaunt in seinem Sessel saß. Zu dieser morgendlichen Stunde hatte er kein Glas Scotch in der Hand, aber davon abgesehen sah der Finanzmagnat so aus, als hätte er seit dem letzten Mal, als er Wolf auf seinen sündhaft teuren Orientteppich zitiert hatte, nicht einen einzigen Muskel bewegt.
»Äh …, darf ich?«, fragte Wolf und langte nach der Zeitung.
»Nennen Sie das Diskretion?«, fuhr Keegan fort und raschelte wieder mit der Zeitung. »Sieht so der Schutz der Privatsphäre aus?«
Wolf griff erneut nach der Zeitung, aber Keegan zog sie weg.
»Sie halten das alles wohl für ein verdammtes Spiel!«, bellte er. »Haben Sie vergessen, was mit Roosevelt geschehen ist? Wollen Sie, dass sich das wiederholt? Dann danke für die Vorwarnung. Ich verlasse die Stadt, bis der Kampf vorbei ist, und jeder Polizist mit etwas Grütze im Kopf wird es genauso machen!«
Schließlich erhaschte Wolf doch noch die Zeitung. Als er sie entfaltete, kam die Überschrift auf der ersten Seite zum Vorschein:
J.P.MORGOUNT BEI RENDEZVOUS
MIT TANZMÄDCHEN ERWISCHT!
»Oh nein«, sagte Wolf.
»Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben?«
»Ich sollte den Artikel erst einmal lesen, ehe ich mich dazu äußere«, erwiderte Wolf und schickte sich an, genau das zu tun.
Dann reichte er die Zeitung seinen Lehrlingen und wartete, bis auch sie auf dem Laufenden waren. Der Artikel war im unverkennbaren Stil der
New York Sun
verfasst, voller Jargon und mondänem Tratsch.
Ein kleines Vögelchen war so nett, uns zu zwitschern, dass Inquisitor Wolf von der New Yorker Polizei letzte Woche auf der Strandpromenade von Coney Island bei der Befragung von Augenzeugen in einem noch ungelösten Kriminalfall gesichtet wurde.
Ging es bei dem Verbrechen um Zauberei oder eher um Leidenschaft? Ist es nur Zufall, dass es sich bei der von Inquisitor Wolf befragten Hauptzeugin um die appetitliche Rosalind Darling alias Little Cairo handelt? Und dass der Topermittler der New Yorker Polizei kürzlich gesehen wurde, wie er J.P.Morgaunts Stadtpalais in der Fifth Avenue besuchte?
Als wir Miss Darling zu Hause besuchten, wusste ihre Mutter Folgendes mitzuteilen:
»Ich gebe keinen Kommentar ab! Ich habe Ihnen nichts zu sagen! Meine Tochter lebt ausschließlich ihre Kunst. Wenn Mr Morgaunt ihr eine gewisse Aufmerksamkeit entgegengebracht hat, so geschah das aus Wertschätzung für ihre künstlerischen Darbietungen als da sind: Stepptanz, Gesang, Modellstehen sowie Verkörperung von lebenden Standbildern und orientalischen Szenen. Für Letztere ist sie buchbar über Darling Incorporated, Apartment 3 D, 240 Mulberry Street. Haben Sie die Apartmentnummer notiert oder soll ich sie noch einmal wiederholen?«
Wir brennen
Weitere Kostenlose Bücher