Der Seelenfänger (German Edition)
Dämmerlicht der
Bibliothek saß und das Glas mit dem golden schimmernden Whisky schwenkte. Damals war ihm, als sei der ganze Zauber der Riesenstadt New York in diesem goldenen Licht zusammengeballt.
»Ich kann es nicht genau beschreiben. Aber ich habe es danach hin und wieder gespürt, wenn ich in der U-Bahn fahre oder die Straße hinuntergehe …«
Sascha suchte nach den passenden Worten. Er erinnerte sich an den übermächtigen Zauber, der in Morgaunts Bibliothek oder in Shens Waisenhaus waltete. Der gleiche Zauber war wie eine Erschütterung durch die Stadt gegangen, als der Lumpensammler im rechten Augenblick um die Ecke bog und Sascha vor dem Dibbuk rettete. Und ähnlich war es auch, wenn er an Baustellen oder den tiefen Gruben für die neuen U-Bahn-Linien vorbeikam, dieses Gefühl von … Ja, was eigentlich? Eine Kraft, die stärker war als die Energie aus Edisons Dynamos. Eine Kraft, die sonst verborgen unter Schmutz, Mörtel und Pflastersteinen lag, die aber an Orten, wo es niemand vermutet hätte, plötzlich wie ein Vulkan aus der Tiefe hervorbrach. Manchmal hatte er das Gefühl, dass die Stadt in ihrer alltäglichen Erscheinung nur ein Vorhang war, hinter dem eine dunkle Bühne lag. Dort aber schwebten, unsichtbar, aber allzeit gegenwärtig, die Abermillionen Seelen, deren Liebe, Leid, Schmerz und Leidenschaft die Riesenstadt erfüllten. Und aus ihnen entwickelte sich eine Kraft, wie es sie vorher nirgendwo sonst auf der Welt gegeben hatte.
»Das ist New York«, sagte Teddy Roosevelt, »du hast ein Gespür für die Stadt selbst. Jede Stadt besitzt ihren eigenen Zauber oder ihre eigene Seele. Und die Seele einer Stadt wie New York hat eine unvorstellbare Kraft. Und darin liegt Morgaunts Wahn. Er will nicht nur die Kontrolle über die Leute, die Zauberei ausüben. Er will die Magie selbst für seine Zwecke einspannen. Er will New York in eine Maschine verwandeln, die ihn nur noch reicher macht. Er ist verrückt! Und er wird uns alle zerstören, wenn wir seiner Verrücktheit nicht Einhalt gebieten!«
Mittlerweile war es allen deutlich geworden, dass Roosevelt eine Rede hielt. Und er sprach mit solchem Feuer, dass Sascha sich nicht abwenden konnte.
»Inquisitoren schützen nicht allein rechtschaffene Bürger vor Zauberern. Nein, sie schützen auch Zauberer vor sich selbst. Als ihr Wolfs Lehrlinge wurdet, habt ihr auch die Aufgabe übernommen, Menschen wie …«
Wolf räusperte sich und sah Teddy Roosevelt warnend an.
»Max hat recht«, sagte der nach kurzem Zögern. »Wie wäre es, wenn ihr beiden an die frische Luft geht und uns ein paar Dinge in aller Vertraulichkeit besprechen lasst?«
Sascha hätte vor Enttäuschung am liebsten aufgeschrien. Er und Lily warfen Blicke stummen Protestes in Wolfs Richtung. Doch sie perlten an seiner steinernen Miene ab.
»Na lauft«, ermunterte Roosevelt sie, »geht spielen. Das wollt ihr selbstverständlich nicht. Wenn ihr ein Quäntchen Verstand habt, horcht ihr draußen an der Tür. Aber ich warne euch. Ich kann eine Tür ihn null Komma nichts aufreißen, also macht euch auf alles gefasst!«
Roosevelt mochte Witze über das Lauschen an Türen reißen, doch es stellte sich heraus, dass die schweren Eichentüren alles auf ein undeutliches, die Neugier nur anstachelndes Murmeln dämpften. Als sich die beiden Männer endlich wieder blicken ließen, saßen Lily und Sascha auf einem lachsfarbenen Sofa und machten aus ihrer Enttäuschung keinen Hehl.
»Sie jagen Großwild«, sagte Roosevelt zu Wolf, als er die Flügel der Tür wieder aufstieß, »wenn man ein großes Tier stellt, ist es besser, sofort zu schießen.«
»Das Stellen macht mir keine Sorgen«, entgegnete Wolf, »sondern das, was danach kommt.«
»Dann haben Sie den weiten Weg nach Long Island nur gemacht, um herauszufinden, ob ich zu Ihnen halte? Ich mag ja viele Fehler haben, Max, aber meine Freunde im Stich zu lassen gehört nicht dazu.« Dann sah Roosevelt Sascha und Lily an. »Und was ist mit euch? Haltet ihr zu uns? Können wir auf euch zählen? Aus was für Holz seid ihr geschnitzt?«
»Ich gebe mein Bestes«, sagte Sascha, hin- und hergerissen zwischen Bewunderung für Roosevelt und Scham über die Geheimnisse, die er mit sich herumtrug.
»Das ist die richtige Einstellung!«, sagte Teddy Roosevelt. »Wenn Leute dich fragen, ob du etwas übernehmen kannst, dann sag Ja! Mach dich dran und finde heraus, wie du es schaffen kannst. So, und nun sag mir ohne viel Nachdenken: Welchen Menschen auf der
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