Der Seelenfänger (German Edition)
Betragen sagte ihm, dass er sie lieber nicht ansprechen sollte.
»Ich habe das bestimmte Gefühl«, sagte sie schließlich, »dass ich dir dein Geheimnis lassen muss. Aber sei auf der Hut, Sascha. Du bist ein Junge mit ungewöhnlichen Gaben. Und mit ungewöhnlichen Gaben handelt man sich große Schwierigkeiten ein.«
Dann verschwand sie im Strom der Spaziergänger, ohne dass Sascha auch nur die Zeit für ein Auf Wiedersehen gehabt hätte. Erst auf der Treppe zur Wohnung seiner Eltern fragte er sich, warum Shen ihm überhaupt gefolgt war.
22 Weg, alles ist weg
Schon in der Tür spürte Sascha, dass etwas Schreckliches geschehen war.
Mrs Lehrer saß auf einem Stuhl und ließ den Kopf hängen. Mrs Kessler stand neben ihr, strich ihr sanft übers Haar und flüsterte leise »sch, sch«, so wie man ein Baby beruhigt. Alle anderen standen um sie herum, als wäre Mrs Lehrer eine Bombe, die jeden Moment hochgehen konnte.
»Jemand hat ihren Mantel gestohlen«, flüsterte Beka ihrem Bruder zu.
»Den Mantel? Und was ist mit dem Geld?«
»Weg, alles ist weg.«
Sascha erstarrte vor Schreck. Vor seinem geistigen Auge sah er sich noch, wie er, den schweren Mantel über den Schultern, mit Mrs Lehrer in dem hell erleuchteten Fenster tanzte. Wer auf der Straße gestanden und hinaufgeschaut hatte, musste glauben, dass es sein Mantel war. Und kein Zweifel, da hatte jemand – oder eine Schattengestalt – auf der Straße gestanden und sie beobachtet.
Sascha war elend zumute. Was hatte er getan? Wie konnte er sich jemals verzeihen, solchen Kummer über seine Familie gebracht zu haben? Er musste etwas tun, aber bei jedem Versuch, einen klaren Gedanken zu fassen, wurde er nur noch verwirrter.
»Sch, sch«, machte Mrs Kessler. Sie streichelte immer noch Mrs Lehrers Haar.
Doch jetzt schob Mrs Lehrer die Hand beiseite und stand auf. »Es ist schon gut«, sagte sie mit dumpfer, hohler Stimme. »Ich hätte das Geld sowieso nie ausgeben können. Ich weiß schon seit Jahren, dass keine meiner Schwestern drüben noch lebt.«
Damit ging sie durchs Zimmer, setzte sich an ihre Nähmaschine und nahm sich die nächste Bluse vor. Ein Berg von Textilien wartete wie immer auf sie.
Die anderen schauten sich mit erschütterten Mienen an. Sascha konnte in ihren Gesichtern die Fragen lesen, die keiner zu stellen wagte. Was würde aus dieser Frau nun werden, nachdem man ihr den Zweck ihres Lebens gestohlen hatte? Sollten sie versuchen, mit ihr darüber zu reden? Oder war es eines von den Dingen im Leben, die man durch Reden nur noch schlimmer machte?
Es wurde ein quälend langer, unbehaglicher Abend, an dem Mrs Lehrer auch dann noch an ihrer Nähmaschine saß, als alle anderen sich bedrückt zu Bett begaben.
Sascha wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, als er mit einer schrecklichen Angst im Bauch aufwachte. Es war dunkel im Zimmer. Draußen auf der Straße war alles so ruhig und still, dass es zwischen drei und vier Uhr morgens sein musste.
Was für ein Albtraum hatte ihn gequält! Er war in einer tiefen, schrecklichen Finsternis verloren gewesen und das in alle Ewigkeit. Was für eine grauenhafte Vorstellung, an solch einem Ort gefangen zu sein, niemals mehr zu lachen oder die Liebe und Wärme von Freunden und Verwandten zu spüren! Das Schlimmste aber war das Wissen – wenn er auch nicht sagen konnte, woher es kam –, dass er sein Leben nicht einfach verloren hatte: Es war ihm gestohlen worden. Und der Dieb, angetan mit Saschas Kleidung, und, noch viel schrecklicher, in seinem Körper, spazierte unbehelligt umher, erfreute sich am Sonnenschein und an der Liebe seiner, Saschas, Eltern, die nicht wussten, dass er der Mörder ihres Sohnes war.
Aber es war ja nur ein Traum gewesen! Beka schlief neben ihm; er hörte ihren Atem und erkannte die vertraute Rundung ihrer Wange gegen den schwachen Lichtschein der Straßenlaterne. Seine Eltern lagen neben Beka. Auf der anderen Seite schnarchte Großvater Kessler wie ein Teekessel kurz vor dem Kochen.
Sascha atmete erleichtert auf und kuschelte sich unter das Federbett. Er war schon wieder halb eingeschlafen, als er eine schattenhafte Bewegung im Dunkeln wahrnahm, dazu das eindeutige Geräusch von Schritten.
Das musste wohl Mordechai sein, der wieder spät nach Hause kam.
Aber Mordechai war schon daheim, er lag auf seiner Matratze neben der Tür. Sascha hörte ihn schnarchen, der muntere Tenor des Onkels begleitete den sonoren Bass des Großvaters.
Außerdem schien diese
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