Der Seelenfänger (German Edition)
darauf, das helle Licht der Sun auf das Geheimnis in Coney Island zu richten. Wird Mr Morgaunt dem bezaubernden Charme Miss Darlings erliegen? Wird sie die nächste Bühnenverführerin, die den Sprung in den erlauchten Kreis der Vierhundert schafft? Wird Mrs Astral bald nolens volens einen Star aus den Schaubuden von Coney Island empfangen? Die Zeit – und die furchtlosen Reporter der New York Sun – werden es an den Tag bringen!
»Arme Rosie!«, flüsterte Lily hinter vorgehaltener Hand zu Sascha. »Und ich dachte, meine Mutter wäre schlimm!«
»Nun«, sagte Wolf ironisch, »Mrs DiMaggio – äh, Darling – versteht sich darauf, Gelegenheiten beim Schopf zu packen.«
»Und was soll ich Mr Morgaunt sagen?«, fragte Keegan, als würde J.P.Morgaunt nicht neben ihm sitzen und Wolf mit kalten Patrizieraugen amüsiert beobachten.
Morgaunt überließ Keegan das Reden, während er sich schweigend im Hintergrund hielt. Aber anders als beim ersten Besuch wirkte sein Schweigen verstörend. Obwohl Keegan weiterdonnerte, schien J.P.Morgaunt über Wolfs Schnitzer eher erheitert zu sein.
Morgaunts Blick schweifte zur Seite und fing Saschas auf, der ihn beobachtet hatte. »Hallo, Mr Kessler. Macht Ihnen Räuber und Gendarm spielen immer noch Spaß oder wird das Vergnügen langsam schal?«
»Lassen Sie ihn in Ruhe«, knurrte Wolf. »Er ist Ihren Spielchen nicht gewachsen.«
»Ach, dann haben Sie ihn also unter Ihre Fittiche genommen?«, kicherte Morgaunt. »Sie haben ein weiches Herz, Wolf. Das ist immer schon Ihr Schwachpunkt gewesen. Immerhin ist er interessanter als Ihr letztes Mitbringsel von der Straße. Wie geht es denn der kleinen Chinesin? Spielen Sie immer noch den Romeo für die welke Julia oder haben Sie sie satt?«
Wolf und Morgaunt starrten sich an. Wolfs Gesicht war ausdruckslos wie immer, aber eine leichte Röte stieg vom Hals bis hinauf zu den Wangen.
»Ach so«, sagte Morgaunt, »sie hat genug von Ihnen. Oder sie hat gemerkt, dass sie lieber die Witwe eines wohlhabenden Publikumsmagneten sein will als die Frau eines unbotmäßigen Polizisten mit trüben Karriereaussichten. Wie rührend.« Morgaunt langte nach einem Bündel Papiere, das auf seinem kolossalen Mahagonischreibtisch lag. Die Papiere, die er rasch mit dem Daumen durchging, sahen verdächtig nach polizeilichen Überwachungsprotokollen aus. »Wirklich, Wolf, eigentlich müsste ich Ihnen ein Honorar zahlen. In den Überwachungsprotokollen zu blättern, die Keegan über sie hat anfertigen lassen, ist so unterhaltsam, wie in die Oper zu gehen.«
Wolf sah Morgaunt verblüfft an. Selbst Sascha war klar, wie überrascht Wolf von Keegans Überwachungsmaßnahme war. Er fasste sich aber schnell wieder. »Wollen wir hier nur tratschen«, fragte er, »oder haben Sie mir etwas Nützliches mitzuteilen?«
»Ich habe einen Auftrag für Sie«, sagte Morgaunt. »Eine Auftrag, um den Sie sich von Anfang an hätten kümmern müssen. Schützen Sie Edisons Leben, und sorgen Sie dafür, dass mein Name nicht in der Skandalpresse erwähnt wird. Wenn Ihnen das gelingt, könnte ich über Shen und ihre Waisenkinder hinwegsehen. Wenn nicht, grabe ich halb Chinatown um und lasse eine U-Bahn-Station mitten in der Ballett- und Benimmschule bauen!«
Was Wolf auf diese Drohung erwidert hätte, sollten Sascha und Lily nie erfahren. Denn als Wolf den Mund öffnete, drang ein lauter Schrei aus dem Innenhof herauf, und im nächsten Augenblick erschien der Butler mit verstörter Miene in der Tür.
»Was ist denn los?«, fragte J.P.Morgaunt ungehalten. »Nun reden Sie schon!«
»Der Dibbuk!«
Sascha sank das Herz, als er das angstverzerrte Gesicht des Butlers sah, und er wusste, dass etwas Schreckliches geschehen war. »Diesmal hat er getötet!«
Wie Läufer beim Knall des Startschusses sprangen Wolf und Morgaunt gleichzeitig auf und stürzten zur Tür. Sascha und Lily wollten ihnen nach, aber Wolf hielt sie zurück.
»Ihr bleibt hier!«, gebot er ihnen. »Keine Widerrede! Das ist kein Spiel. Bleibt in der Bibliothek, bis ich euch rufe!«
Die beiden Kinder schauten verzweifelt auf die geschlossene Tür.
»Ob dieser Dibbuk uns bis hierher gefolgt ist?«, fragte Lily mit dünner, ängstlicher Stimme.
»Warum sollte er?«, entgegnete Sascha, obwohl er spürte, dass er die Antwort bereits kannte.
»Sascha«, flüsterte Lily, »hast du dich schon einmal gefragt,
ob …, ich meine, ist dir nicht aufgefallen, dass …«
Aber Sascha kehrte ihr den Rücken zu, er wollte nicht
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