Der Seelenhändler
Sattel und stieg auf.
Sie ritten den gewundenen Weg zur Ruine hinauf und hatten etwa eineinhalb Stunden später den Scheitelpunkt der Anhöhe passiert, als der Wald lichter wurde und schließlich ganz zurücktrat. Sie verhielten die Pferde.
Unmittelbar vor ihnen stach nun, vor dem aschefarbenen Hintergrund des morgendlichen Horizonts, eine unscharf konturierte Masse in den Himmel.
Dunkel. Drohend. Starr.
Durchsichtige weiße Schleier waberten darüber hinweg – Nebel, der den Eindruck von Rauchschwaden, wie sie aus verkohlten Trümmern aufsteigen, hervorrief.
Aus der formlosen Masse selbst gähnte ihnen ein riesiges, aufgerissenes schwarzes Maul entgegen – der Eingang zur Burg.
Sie ritten weiter.
Das schwarze Maul kam näher.
Nach und nach traten die Konturen des Gemäuers schärfer hervor, und mühsam und zäh begann das Licht des Morgens Einzelheiten wie Quader, Zinnen, Steine und Balken der maroden, unregelmäßig gezackten Umfassungsmauer aufzuzeigen.
Als er sich dem Toreingang bis auf wenige Schritte genähert hatte, hielt Wolf sein Pferd erneut an. Er wunderte sich über die penetrante Dunkelheit, die ihm aus der mächtigen Öffnung entgegenschlug. Schnell aber erkannte er im Schein der Fackel, dass der Weg ins Innere der Ruine offenbar durch ein lang gestrecktes, seltsamerweise noch verhältnismäßig intaktes Torgewölbe führte. Entschlossen gab er dem Rappen die Fersen und tauchte in den schwarzen Tunnel ein. Wenige Augenblicke später langte er – gefolgt von Katharina – in dem vom Dämmergrau erfüllten Burghof an.
Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn abermals den Rappen zügeln.
Vor ihm, etwa dreihundert Schritte von ihm entfernt, strebte der Burgfried empor. Schon vor vielen Jahrzehnten seines Daches beraubt, erweckte er den Eindruck eines alten Mannes, dem der Kopf abgetrennt worden war. Auch die anderen Gebäudereste – Stallungen, Herrschafts- und Gesindehäuser – wirkten tot, geradezu skelettiert. Im Burghof selbst überall Trümmer: abgebrochene Säulen, Mauerreste, geborstene, dicht mit Moos überzogene Steinplatten; sogar die Torsi zertrümmerter Skulpturen nahm er wahr. Dazwischen wild wucherndes Strauchwerk, Büsche und einige wenige Bäume.
„Wolf?“ Dumpf und irgendwie verloren drang der Ruf Katharinas durch die graue Luft des Morgens.
Wolf wandte sich um und bemerkte überrascht, dass sie neben einem übermannshohen Mauerrest aus dem Sattel gestiegen war.
„Was gibts? Willst du etwa hier rasten?“, rief er ihr zu.
„Nein, ich muss nur mal kurz anhalten. Du verstehst schon“, entgegnete sie mit einem entschuldigenden Lächeln und sah sich nach einem geeigneten Platz um. „Du kannst ja vorausreiten. Ich komme gleich nach.“
Wolf verstand und ritt weiter.
Nur wenige Schritte später schwang auch er sich vom Pferd. Den Rappen hinter sich her führend, bog er um ein etwa doppelt mannshohes Mauerstück, zu dessen Füßen die Reste eines alten Pflasters erhalten geblieben waren. Als der Rappe darüberschritt, erfüllte das Klappern seiner Hufe den ansonsten von morbider Schweigsamkeit erfüllten Platz vorübergehend mit Leben.
Doch plötzlich war da noch ein anderes Geräusch! Ein Rufen? Ein Schrei?
Wie angewurzelt blieb er stehen, um zu horchen.
Nichts! Stille!
Offenbar hatte er sich getäuscht.
Gerade wollte er weitergehen – als etwas anderes unvermittelt seinen Schritt bannte.
Ein Hauch hatte ihn berührt, eine Andeutung von Kälte.
Eine winzige Bewegung der Luft, verbunden mit einem kaum vernehmbaren Flüstern.
Er blickte nach oben.
Zu seiner Rechten ragten die Äste eines Baumes über das marode Mauerstück. Für den Bruchteil eines Augenblicks erzitterte leise wispernd sein Laub – ein Wispern, das ihn warnen wollte? Ohne dass er hätte sagen können warum, überfiel Wolf mit einem Mal die Ahnung nahenden Unheils. Dann ein leises Schnauben in seinem Rücken.
Er wirbelte herum …
… und erblickte dort, wo die Mauer begann, um die er selbst gerade erst gebogen war, den schemenhaften Umriss eines Pferdes ohne Reiter.
Katharinas Stute!
Wolf merkte, wie sein Herz wild zu hämmern begann. Er überließ den Rappen sich selbst, rannte zurück und langte Augenblicke später bei der Stute an.
Was er sah, ließ die Angst in ihm hochsteigen.
Ein Riss klaffte am Hals des Pferdes. Blut lief als schmales Rinnsaal daran herab und tropfte auf den Boden. Das Rohr am Sattel, in dem die Fackel gesteckt hatte, war leer.
Seine Angst nahm zu, schärfte
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