Der Seelenhändler
Schatten näher.
Noch dreißig Schritte, und sie hatten ihn erreicht.
Warten! Du musst warten!, hämmerte er sich ein. Noch nicht!
Plötzlich, mit einem Mal, fielen die Männer in einen Laufschritt.
Außer einem scharfen Atemlaut, der Wolfs Lungen zischend verließ, verriet nichts die ungeheure Anspannung, unter der er stand. Er ließ die sich schnell nähernden Schatten nicht aus den Augen, gleichzeitig schätzte er abermals ihre Entfernung – noch etwa zwanzig Schritte.
Wolf spannte die Muskeln an
Noch fünfzehn Schritte …
… jetzt!
Urplötzlich stieß er sich von der Mauer ab und begann mit weit ausholenden Sprüngen nach Südosten zu jagen.
Sein Ziel war die an der Umfassungsmauer gelegene steinerne Treppe, die zum dortigen, allerdings nach wenigen Schritten eingestürzten Wehrgang hinaufführte. Soweit Wolf erkennen konnte, war die Treppe steil und schmal und verfügte über eine Brüstung. Er hoffte nur, dass sie noch einigermaßen gut erhalten war. Gelänge es ihm, sie zu erreichen und zu erklimmen, würde er im Kampf mit den Männern die bessere Verteidigungsstellung innehaben. Da es auf der Treppe sehr eng herging, würde es nämlich nur jeweils einem der Angreifer gelingen können, sich vor ihm aufzubauen, während er selbst den Rücken frei hatte. Außerdem konnte er dadurch seine Schläge von einer erhöhten Position aus führen, was ihm in dem zu erwartenden Zweikampf einen weiteren nicht zu unterschätzenden Vorteil einbrachte.
Wolf vernahm einen ärgerlichen Ausruf in seinem Rücken und wusste, dass es ihm gelungen war, die Männer zu überraschen, auch wenn ihm das gleich darauf einsetzende dumpfe Geräusch von Schritten verriet, dass sie die Verfolgung aufgenommen hatten.
Ohne sich umzusehen, rannte Wolf weiter. Und noch während er über geborstene Säulen hinwegsetzte, Mauerreste umrundete und Trümmerstücke übersprang, tauchte es plötzlich wieder vor seinem inneren Auge auf: das Bild aus seinem Traum, das ihn schon seit vielen Wochen verfolgte, die über das Schachbrett des Schicksals gebeugte knöcherne Fratze des höhnisch lächelnden Schnitters! Spätestens in diesem Augenblick wusste Wolf, dass das Spiel um eine schreckliche Dimension erweitert worden war. Und dass er es ab sofort nicht nur um Bertrams, sondern auch um Katharinas willen spielte.
Die Treppe kam näher. Wolf registrierte es mit Erleichterung.
Ein letzter gewaltiger Satz – dann hatte er sie erreicht. Zwei, drei Stufen auf einmal nehmend sprang er sie empor – und wirbelte mit gezücktem Schwert herum.
Keuchend und völlig außer Atem langten gleich darauf auch seine Verfolger am Fuß der Treppe an. Unschlüssig, wie sie sich verhalten sollten, sahen sie schweigend zu ihm empor …
… und zum ersten Mal konnte Wolf, zumindest bruchstückhaft, ihr Aussehen wahrnehmen.
Unmittelbar vor ihm, der Treppe am nächsten stand ein hochgewachsener Kerl mit schulterlangem, schwarzem Haar und bartlosem Gesicht. Seitlich der ungewöhnlich stark gebogenen Nase sah er ein aus schmalen Schlitzen bestehendes dunkles Augenpaar. Ebenso schmal war der Mund, ein von blutleeren Lippen gebildeter, nach unten gebogener Strich.
Der neben ihm stand, war stämmig, von eher gedrungener Statur. Seine Gesichtszüge waren nicht erkennbar, sie gingen in einem wild wuchernden silbergrauen Bart unter, der eine verfilzte Einheit mit dem dichten, ebenfalls grauen Haupthaar bildete. Auffällig an ihm war allein die schwarze, mit einer silbernen Kordel verzierte und zu einem Turban geschlungene Gugel, die sein Haupt bedeckte, sowie ein schwarzer Umhang, unter dem ein Paar silberbeschlagener Stiefel hervorlugte – teure Stiefel.
Die beiden anderen, ein Stück weiter hinten, waren zwei hagere, schwarzbärtige Gestalten, ausgestattet mit ungewöhnlich breitkrempigen Hüten, in deren Schatten sich ihre Gesichtszüge verloren. Brüder vielleicht?
Trotz aller äußerlichen Unterschiede hatten die in seltsamer Bewegungslosigkeit begriffenen Männer eines gemeinsam – etwas Raubtierhaftes ging von ihnen aus.
„Kommt nur … ihr feigen Hunde … Oder traut ihr euch etwa nicht?“, keuchte Wolf, während sein herausfordernder Blick von einem zum anderen glitt.
Schweigen antwortete ihm – das Schweigen eines Rudels blutrünstiger Hunde, das lechzend um seine Beute kreist.
Dann aber, plötzlich, ergriff einer von ihnen das Wort. Es war der Graubart.
„Oho, der Wolf zeigt seine Zähne! Seid Ihr angesichts der Situation, in der Ihr Euch
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