Der Seelenleser
brauchte nur einen Blick, um sie zu finden, und kam zu ihrem Tisch herüber.
» Es tut mir leid, dass ich ein wenig zu spät bin«, sagte er und ließ sich auf dem Stuhl ihr gegenüber nieder.
» Keine Ursache. Ich bin auch gerade erst gekommen.«
Sie bestellten beide einen Kaffee, und sie versuchte, die Anspannung zu unterdrücken, unter der sie jetzt schon seit Tagen litt. Sie betrachtete Fane deutlich bewusster als am vergangenen Abend im Stafford Hotel.
Er schien Mitte vierzig zu sein, aber das war schwer einzuschätzen. Er hatte ein Gesicht, das sich selbst widersprach: strenge Augenbrauen über freundlichen Augen, unebene Gesichtszüge mit einem Patriziermund. Wieder ein sehr teurer Anzug. Wieder Manschettenknöpfe. Deutlich mehr Klasse, als sie erwartet hatte, aber sie gestand sich ein, dass das an den falschen Vorstellungen lag, die sie sich gemacht hatte.
» Es wird ungefähr eine Stunde dauern«, sagte er. » Sie sind schnell.«
» Und die Kameras sind nur nachts in Betrieb.«
» Das ist richtig.«
Der Kellner kam mit den Kaffeetassen vorbei, und Fanes Blicke verfolgten ihn bis zur Bar zurück, bevor er sich wieder ihr zuwandte und sie dabei erwischte, wie sie mit dem Finger nervös den Rand der Tasse nachfuhr.
Sie stoppte mitten in der Bewegung.
» Sie müssen eine Entscheidung bezüglich der Geheimhaltung treffen«, sagte er. » Ich werde mehr wissen müssen, als Sie mir erzählen wollen.«
» Was zum Beispiel?«
» Ich nehme an, dass dieser Kerl Decknamen verwendet, bei jeder Frau einen anderen. Ich muss diese Namen wissen.«
» Ich hatte Ihnen doch erzählt, dass beide keinen Namen erwähnt haben.«
Er nippte an seinem Kaffee. » Ich werde mit beiden reden müssen.«
» Ich kann mir nicht… vorstellen, wie das…, wie das gehen kann.«
» Falls Sie es so haben wollen, wie Sie es letzte Nacht beschrieben haben, falls Sie es eindämmen wollen, in einem engen Rahmen halten, dann müssen Sie auch bereit sein, gewisse Grenzen zu verwischen.«
Seine Augen waren fest auf sie gerichtet, und er wartete auf eine Antwort. Er war erschreckend aufmerksam, und trotz ihres Versuchs, entschlossen zu wirken, war sie sicher, dass er ihre Ausflüchte vorhersehen würde.
» Wann haben Sie die nächsten Termine mit den beiden?«
» Lore heute Nachmittag, um 14 Uhr. Elise morgen früh.
» Überlegen Sie sich etwas«, sagte er. » Finden Sie es selbst heraus. Sie müssen einige Entscheidungen treffen.«
Sie war noch dabei, dies zu verdauen, als er nach einer kurzen Pause das Gespräch wieder aufnahm. » In der Zwischenzeit werde ich mich zuerst auf Elise Currin konzentrieren. Je mehr ich über sie weiß, desto besser. Vielleicht können Sie mir einen ersten Eindruck von ihr geben, sprechen Sie, als ob Sie mir von einer Freundin erzählen würden, die ich noch nicht kenne.«
Vera zögerte. » Nun, das ist ein kleines Problem für mich. Sie ist keine Freundin. Sie ist eine Klientin. Und das verlagert unsere Beziehung auf eine ganz andere Ebene.«
Fane betrachtete sie in aller Ruhe. Er hatte ihr gesagt, wie es sein würde. Er würde nicht mit ihr verhandeln. Dies, das wusste sie nun, würde noch härter werden, als sie es sich vorgestellt hatte.
Kapitel 9
» Sie ist das, was man gemeinhin als Trophäenfrau bezeichnet«, sagte Vera. » Und sie weiß das auch. Sie ist überaus schön, rotblond und sich durchaus dessen bewusst, was ihre Schönheit in der großen Gleichung des Lebens bedeutet: nicht viel.
Andererseits weiß sie auch, dass ihre Schönheit das Pfund ist, mit dem sie wuchern muss, weil ihre finanzielle Sicherheit hauptsächlich davon abhängt. Sie weiß, dass ihre Schönheit den Drogenentzug einer ihrer Schwestern finanzierbar macht. Geld ist der Klebstoff, der dafür sorgt, dass die Familie einer anderen Schwester nicht auseinanderfällt. Dank ihrer Schönheit kann sie bezahlen, dass ihre Mutter nicht in einem schäbigen Seniorenheim in einer staubigen Kleinstadt im San Joaquin Valley endet und dass in dem Gefäß, welches ihr Stiefvater mit sich herumschleppen muss, immer genügend Sauerstoff ist.«
Vera List trank ihre Tasse leer und wehrte den Kellner mit einem Kopfschütteln ab, der herangeeilt war, um wieder aufzufüllen.
» Elise ist eine Pragmatikerin… Eine, mit einem großen Herzen, das nicht ganz dazu passt«, fuhr sie fort. » Die ersten zwölf Jahre ihres Lebens verbrachte sie in einem kleinen rostigen Wohnwagen, mit dem ihr Vater, ein Schweißer, das San-Joaquin-Tal hoch- und
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